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Aus SeoulFabian KretschmerTypisch deutschVorbild? Das war einmal

Foto: Archiv

Um ein Stück Deutschland in Südkorea zu finden, muss man keineswegs ins Flugzeug steigen. Ganz am südlichen Zipfel der koreanischen Halbinsel, die vier Autostunden südlich von Seoul in einer malerischen Hügellandschaft ins Ostmeer ausfranst, befindet sich das „dogil ­maeul“. Ein „deutsches Dorf“ also, das sämtliche längst überholte Klischees auf die Spitze treibt: Fachwerkhäuser mit Ziegeldächern säumen die fein gesäuberten Bürgersteige, Gartenzwerge wachen hinter Lattenzäunen, und in den Wirtshäusern wird Currywurst und Weißbier serviert.

Was heute wie ein skurriler Freizeitpark anmutet, hat einen historischen Hintergrund: Einige der koreanischen Gastarbeiter:Innen, die in den 1960ern als Krankenschwestern und Bergarbeiter nach Deutschland zogen, haben sich hier zum Ruhestand niedergelassen. Doch ihre Wahlheimat wollten sie offensichtlich nicht in Gänze hinter sich lassen.

Auch wer in der Hauptstadt Seoul durchs Stadtzentrum spaziert, findet etliche deutsche Nachhilfeinstitute, Berlin-inspirierte Techno-Clubs, ja sogar einen Originalabschnitt der Berliner Mauer. Nur die Kulinarik kann sich nicht so recht durchsetzen: In der 10-Millionen-Metropole gibt es nur eine Handvoll deutscher Res­taurants. Wer mit älteren Ko­rea­ne­r:In­nen ins Gespräch kommt, dem wird als Deutscher ein Vertrauensvorschuss geschenkt. Man fühlt sich in der historischen Erfahrung geeint, ebenfalls eine Landesteilung durchlebt zu haben. Und dann ist da eine aufrichtige Wertschätzung gegenüber der deutschen Hochkultur, Philosophie, Rechtsstaatlichkeit und Arbeitsethik.

Doch die Millennials wissen, dass es sich bei diesem Deutschland-Bild um eine idealisierte Vorstellung handelt. Koreaner:Innen, die in den letzten Jahren in Deutschland gelebt haben, haben eine ambivalentere Wahrnehmung: Da wird von erlebtem Alltagsrassismus gegenüber Asia­t:In­nen gesprochen, über den rauen Umgangston lamentiert und über das brutal langsame Internet gestaunt. Doch ein bisschen Sehnsuchtsort ist Deutschland nach wie vor; insbesondere für junge Ko­rea­ne­r:In­nen mit alternativen Ansichten. Sie schätzen, dass in den meisten Büros flache Hierarchien und humane Arbeitszeiten herrschen. Und dass man sich als Feministin bezeichnen kann, ohne dafür stigmatisiert zu werden.

Die anstehende Bundestagswahl ist kein großes Thema. Südkorea steckt selbst in einer Staatskrise, der suspendierte Präsident Yoon Suk Yeol ist seit Wochen in Haft, schon bald könnten Neuwahlen ausgerufen werden. Der innenpolitische Ausnahmezustand erfordert so viel Aufmerksamkeit, dass der Blick über den Tellerrand oftmals zu kurz kommt. In den südkoreanischen Medien dient Deutschland in der Berichterstattung oftmals als Projektionsfläche. Die linken Tageszeitungen, etwa die genossenschaftlich organisierte Hankyoreh, berichtet prominent über die Klimaaktivisten oder die Demonstranten gegen rechts. Die konservative Chosun Ilbo hingegen beschäftigt sich lieber mit der Frage, warum die einstige In­dustrienation Deutschland nun in der Krise steckt.

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