Augenzeugenbericht Gefängnis in Syrien: „Wir waren wie Tote“
Eine Aktivistin gegen das Assad-Regime wurde wiederholt verhaftet und gefoltert. Doch die Gräueltaten, die sie in Freiheit sehen musste, waren schlimmer.
Sie ist keine bekannte Aktivistin. Sie stammt aus einem volkstümlichen Milieu. A. H. ist eine Frau in den Vierzigern. Sie wollte Abitur machen, erzählt sie, habe es jedoch nicht geschafft und deshalb geheiratet. Sie wird ihren Geburtsort niemals verlassen. Sie spricht, als sei sie kurz davor, ein Gedicht zu rezitieren oder ein Glas Wasser zu trinken, ganz so, als sei sie von ewigem Frieden umgeben!
Sie lebt in einer Region, die von den Regimetruppen umstellt ist und in der Menschen verhungern oder durch Heckenschützen oder Bomben getötet werden. Sie hat vier Kinder, ihr ältester Sohn ist in Haft. Ihr Mann war ein ganzes Jahr in Khan al-Schih verschwunden und tauchte erst nach einem vorübergehenden Waffenstillstand mit dem Regime wieder auf.
Zum ersten Mal wurde sie im Januar 2012 verhaftet, weil sie den desertierten Offizieren dabei geholfen hatte, sich vor der Armee zu verstecken. Sie erzählt:
„Hätten wir zulassen sollen, dass die Söhne unseres Landes einfach umgebracht werden? Die Demonstrationen damals waren friedlich gewesen, aber einige Offiziere und Soldaten sind desertiert, weil sie sich geweigert hatten, auf uns Demonstranten zu schießen. Sie hatten uns beschützt, und deshalb war es unsere Pflicht, sie zu beschützen. Zusammen mit vier anderen Frauen habe ich ihnen geholfen; wir haben ihnen einen sicheren Zufluchtsort besorgt.“ […]
Die Langfassung des Textes findet sich in „Innenansichten aus Syrien“, Edition Faust 2014. Aus dem Arabischen von Larissa Bender.
Ihre Stimme wird tiefer und zittert leicht, als sie fortfährt: „Die erste Haft war harmlos gewesen, weil sie mich nicht geschlagen hatten. Aber sie hatten verschiedene Methoden angewendet, um so viele Informationen wie möglich von mir zu bekommen, besonders über die Deserteure. Ich gab gegenüber dem ersten Befrager zu, dass ich an Demonstrationen teilgenommen hatte, gestand aber nicht, den Deserteuren geholfen zu haben. Darauf habe ich steif und fest beharrt. Der zweite Befrager war ein General vom Militär. Er war brutal, aber er beleidigte mich nur verbal. Die ganze Zeit über waren meine Augen verbunden. Ich hatte das Gefühl, blind geworden zu sein, was mich ganz panisch werden ließ. […]
Lass Assad doch gehen
Im Gefängnis weigerte ich mich zu essen und wurde immer schwächer. Beim letzten Verhör war ich völlig entkräftet. Der Befrager war ganz ruhig. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, weil meine Augen verbunden waren. Er sagte, er könne sich nicht vorstellen, dass es in Syrien einen geeigneteren Führer gebe als Baschar al-Assad. Ich habe geantwortet: ’Dem Land und den Leuten geht es doch gut. Lassen Sie den Mann doch gehen.‘
Da meinte er: ’Nenn mir eine Alternative.‘ Ich habe gesagt: ’Es gibt Tausende fähiger Leute! Der Präsident ist doch nicht der Herrgott!‘ Er sagte nichts dazu. In diesem Moment begann ich zu schwanken und fiel vor Erschöpfung auf den Boden. Sie brachten mich zurück in meine Zelle, wo ich drei Tage verbrachte. Ich setzte meinen Hungerstreik fort und konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten. Ich brach vollkommen zusammen, und so haben sie mich freigelassen.
Nie war die Gesellschaft freier, die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung größer. Doch viele macht das nicht glücklich, sondern panisch. Im Job und in der Liebe. Der Soziologe Heinz Bude in der taz.am wochenende vom 20./21. September 2014. Außerdem: Eine Reportage über verschleppte Kinder im Bürgerkrieg in El Salvador, die als Erwachsene ihre Eltern wiederfinden. Und: Wie eine Initiative in Peru Elektroschrott umweltverträglich entsorgt. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Nach meiner ersten Freilassung aus dem Gefängnis habe ich die Zusammenarbeit mit der gleichen Widerstandsgruppe wiederaufgenommen. Es gab noch mehr zu tun als vorher, tagsüber organisierten wir Frauendemonstrationen und nachts Demonstrationen für die Männer. […] Damals gab es bei uns keine Kämpfer, die Verletzten waren allesamt friedliche Demonstranten. Aber es gab schon etliche Straßensperren des Geheimdienstes, besonders des Luftwaffengeheimdienstes beim Flughafen von Mezzeh hinter Sumarija. Dieser Checkpoint lähmte unsere Aktivitäten. […]
Schlimm wurde es, als zahllose Flüchtlinge aus Homs eintrafen. Manchmal hatten wir das Gefühl, gar nichts für sie tun zu können. Wir waren vier Frauen, die Unterkünfte und Nahrungsmittel organisierten. Am liebsten aber filmte ich. Ich filmte, wie der Geheimdienst junge Leute schlug und sie dann verhaftete. Ich besaß Kameras in Form eines Schlüssels, eines Stifts oder eines Knopfes.
Beginn der bewaffneten Kämpfe
Die Armee ist morgens in unser Viertel eingefallen. Wir konnten sie sehen, direkt unter unseren Fenstern. Die Autos der Sicherheitskräfte und Patrouillen hingegen sind die ganze Zeit im Viertel geblieben. Ich habe sie alle gefilmt, habe versucht, alles zu filmen, was vor meinen Augen passierte. Ich habe sie auch gefilmt, als sie die Schulmädchen angriffen. Es war die einzige Möglichkeit, auf ihre Lügen zu reagieren. Wir waren von der Außenwelt abgeschnitten, sie töteten uns, und deshalb mussten wir unbedingt die Wahrheit veröffentlichen.
Zum zweiten Mal wurde ich im Juni 2012 während einer bewaffneten Auseinandersetzung verhaftet. […] Als einer von ihnen wie ein Wahnsinniger auf mich einschlug, so dass ich fast das Bewusstsein verlor, rief ein anderer: ’Lass sie, wir wollen sie lebend haben!‘ Die Schläge ließen etwas nach, aber sie begrapschten und boxten mich die ganze Zeit weiter, bis wir vor dem Gebäude des Luftwaffengeheimdienstes ausstiegen. Ein Mann brüllte, sie sollten mir die Augen verbinden. Dann haben sie mich in den Verhörraum geführt. Sie nahmen mir alles ab und wollten die Namen der Ärzte wissen, mit denen wir zusammenarbeiteten. […]
Dann brachten sie mich in eine Zelle von eineinhalb Quadratmetern. Vorher hatten sie mir die Kleider vom Leib gerissen und mein Haar geöffnet und sich daran zu schaffen gemacht. Unter dem Vorwand, mich durchsuchen zu müssen, steckten sie ihre Finger in all meine Körperöffnungen. Wir waren wie Tote, die sich ein kleines Grab teilten. Wir konnten kaum stehen. Fünf Frauen waren schon in der Zelle, ich war die sechste. Sie kamen aus Deraa, Homs und Hama. […]
Nur mit Mühe konnten wir stehen, schlafen mussten wir übereinander. Die Luft reichte kaum zum Atmen. Ständig hatte ich das Gefühl zu ersticken, immer wieder wachte ich vom Husten auf. Wenn wir nicht mehr stehen konnten, fielen wir uns zwischen die Füße, unsere Körper bildeten dann einen runden Klumpen aus willkürlich angeordneten Gliedern. […]
Gefängnis kann ein Segen sein
Einmal haben sie einen jungen Mann vor unseren Augen gequält. Zwei Tage lang haben sie ihn aufgehängt. Ein anderes Mal haben sie uns alle zusammen geholt und zu sechst befragt. Dann schickten sie die anderen fort, und ich blieb allein. Sie haben mir befohlen, meine Kleider auszuziehen. Ich habe mich geweigert und geweint; ich habe sie angefleht, mich gehen zu lassen. Da befahl der Verhörer seinem Gehilfen, mich auszuziehen. Ich habe laut geschrien, ich weiß nicht, woher ich die Kraft nahm, mich zu wehren. […]
Von meinen Mitgefangenen erfuhr ich aber, dass die Belästigung von Frauen nicht über Begrapschen und Ausziehen hinausgeht. In Homs jedoch passierte das Gegenteil, dort gab es andere Befehle als in Damaskus.
Dann haben sie meine Mutter verhaftet. Sie war 65 Jahre alt. Zwei Monate ist sie im Gefängnis geblieben. Auch meine Schwestern und ihre Kinder haben sie verhaftet und mit mir um sie gefeilscht. Es wäre besser gewesen, ich wäre im Gefängnis geblieben. Als sie meine Mutter und meine Geschwister verhafteten, haben sie mich beschimpft und mir gedroht, sie umzubringen.
Wir konnten sie erst freibekommen, nachdem wir etwas bezahlt hatten, einen lächerlichen Betrag. Dann haben wir sie gegen einen von deren Anhängern ausgetauscht, der auf unserer Seite festgenommen worden war. Das Gefängnis kann ein Segen sein. Wäre ich dort geblieben, hätten sie nicht meinen Bruder statt mir verhaftet und mir nicht gedroht, ihn zu töten. Wir haben einige Tage später seinen Leichnam von einem Krankenhaus in Empfang genommen. Wäre ich im Gefängnis geblieben, hätte ich auch nicht gesehen, wie es ist, wenn ein Kopf vom Rumpf getrennt wird!“
Ihre Stimme wurde noch tiefer und heiserer. „Nach der zweiten Verhaftung habe ich das Massaker erlebt. Sie haben während der Feiertage begonnen zu bombardieren. Das Massaker fand zwischen dem 28. und 29. August statt. Wir haben Spielzeug an die Kinder der Getöteten verteilt. Ich kann Ihnen alles genau beschreiben. Am ersten Tag verteidigten die Männer den Ort, viele von ihnen wurden dabei getötet. Sie kapitulierten zwar nicht, aber ihnen ging die Munition aus. Deshalb mussten sie sich zurückziehen. Manche flohen nach Dschdaida; sie wurden verfolgt und dort abgeschlachtet.
Ich arbeitete damals in einem Feldlazarett. Es geschah am dritten Feiertag. Die Armee von Baschar al-Assad ist in den Ort eingedrungen, deshalb flohen wir nach Daraija. Als die Armee wieder abgezogen war, kehrten wir zurück. Die Leichen der Männer lagen überall herum. Man hatte ihnen die Hälse durchgeschnitten, genau wie Schafen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Die meisten waren noch jung. Haben Sie schon einmal einen geschlachteten Hammelkopf gesehen? Genauso habe ich die Köpfe der Männer gesehen, abgetrennt vom Körper auf den Straßen liegend.
Während des ersten Massakers war ich beim Militärischen Geheimdienst in Haft. Ich habe ja gesagt, das Gefängnis kann auch eine Gnade sein.“
(Das Gespräch mit A. H. wurde 2013 geführt.)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich