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KOMMENTAREAufstieg und Niedergang

■ Algeriens Bevölkerung verabschiedet sich von den Islamisten

Haben wir die Islamisten überschätzt? Lange waren europäische Beobachter bereit, bei jeder Gelegenheit den fundamentalistischen Teufel an die Wand der arabischen Welt zu malen. Die Bevölkerungen des Maghreb wuchsen in der Phantasie Europas zu einer explosiven Masse, die früher oder später an der Südküste des Mittelmeeres die grüne Flagge der islamischen Revolution hissen würde. Besonders in Algerien wurden solche Schreckensbilder lokalisiert, nachdem bei den Kommunalwahlen vom Juni 1990 die „Islamische Heilsfront“ (FIS) 55 Prozent der Stimmen erhielt.

Nun sitzen die Leitfiguren der algerischen Islamisten in Haft — und die Algerier tun nichts. Die erwarteten Solidarisierungseffekte, Proteststürme und Massendemonstrationen bleiben aus. Es ist wohl kaum die Lethargie in der Hitze des Sommers, die zu dieser Gleichgültigkeit geführt hat. Eher schon zeigt sich, daß die vielbeschworene islamistische Massenbewegung in Wirklichkeit gar keine ist. Zu unterschiedlich waren die Hoffnungen, die auf der FIS ruhten, seitdem sie nach den Oktober-Unruhen von 1988 und der darauf einsetzenden Demokratisierung Algeriens zur wichtigsten politischen Oppositionskraft wurde.

Nach ihrer Legalisierung im September 1989 bildete die islamistische Front einen Brennpunkt, in dem sich verschiedenste Erwartungen und Gesellschaftsprojekte bündeln konnten. Ob es die Hoffnung auf Demokratie war, der alltägliche Frust der Jugendlichen in den Trabantenstädten, der Wunsch auf Bereicherung in der blühenden Schattenwirtschaft oder die nebulöse Utopie einer „Islamischen Republik“ — alles, was sich an Unzufriedenheit und Veränderungswillen nach fast dreißig Jahren Einparteienherrschaft in Algerien angesammelt hatte, konnte auf die Islamisten projiziert werden in der Hoffnung, diese würden sich als politikfähige Alternative zum Staat erweisen.

Doch je mehr der Staat selbst diese Erwartungen erfüllte, desto weniger Gründe gab es, die „Islamische Heilsfront“ zu unterstützen. Die Demokratisierung Algeriens ist längst eingeleitet, die Freiräume der Privatwirtschaft werden größer, und auf kommunalpolitischer Ebene haben die Islamisten nicht bewiesen, daß sie über größere Toleranz und soziale Kompetenz verfügen als die alten Machthaber. So ist das Wahlvolk der FIS ebenso schnell, wie es zusammenkam, wieder auseinandergelaufen — enttäuscht über eine Partei, die sich von ihrem fundamentalistischen Religionsverständnis nicht lossagen kann und daher nicht flexibel genug ist, um dem Staat eine ernsthafte politische Konkurrenz zu bieten.

Politischen Protest und soziale Unruhe wird es natürlich auch weiterhin geben. Doch wer jetzt in Algier auf die Barrikaden geht, tut dies nicht aus Solidarität mit Madani und Benhadsch. Er tut es aus Unzufriedenheit mit gesellschaftlichen Verhältnissen, die keine Partei zu verbessern weiß. Einst angetreten, Religion und Politik dauerhaft zu vereinigen, hat die „Islamische Heilsfront“ das Gegenteil bewiesen: nämlich daß das Projekt einer „Islamischen Republik“ keine Antwort auf die Herausforderungen der Modernisierung in einer sich verändernden Welt darstellen kann. Dominic Johnson

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