: Aufruf zum Gewaltverzicht
■ Die Mehrheit der sozialdemokratischen Abgeordneten im türkischen Parlament will den Ausnahmezustand in Türkisch-Kurdistan beenden, aber Parteichef Inönü ist dagegen
Heute stimmt das türkische Parlament über die Verlängerung des Ausnahmezustandes im kurdischen Südosten des Landes ab. Die Regierung fordert die Verlängerung des Zustandes, der den türkischen Militärs die Grundlage zu willkürlichen Repressionsmaßnahmen gibt. 49 Abgeordnete verschiedener Parteien fordern in einem Kommuniqué die Beendigung des Ausnahmezustandes. Die kurdische Guerillaorganisation PKK hat inzwischen zur Volksbewaffnung aufgerufen. Zum kurdischen Neujahrsfest, Newroz, am 21. März soll der Volksaufstand beginnen.
Der sozialdemokratische Parlamentarier Ercan Karakas gehört zu den Unterzeichnern der Deklaration.
taz: Sie sind einer der Unterzeichner der Deklaration, die Regierung, der ihre Partei angehört, ist aber für die Verlängerung. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?
Ercan Karakas: Im Südosten der Türkei herrscht seit sieben Jahren der Ausnahmezustand. Dieser Zustand wurde bisher 24mal im türkischen Parlament verlängert. Meine Partei hat bei jeder Abstimmung gegen die Verlängerung gestimmt. Es gibt heute keinen Grund, dieses Verhalten zu ändern. Die Verhängung des Ausnahmezustandes regelt ein Gesetz, das die Rechte der Bürger sehr stark beschneidet, sogar teilweise aufhebt. Nach Ansicht unabhängiger Juristen verstößt das gegen die internationalen Menschenrechtskonventionen. Einige Bestimmungen dieses Gesetzes sind mit der türkischen Verfassung unvereinbar.
Wenn man die rechtliche Seite außer Acht läßt, stellt man fest, daß der Ausnahmezustand das Kurdenproblem in der Türkei nicht gelöst hat. Im Gegenteil, das Problem ist schwieriger, ja unlösbar geworden.
Die SHP-Parlamentsgruppe hat mehrheitlich gegen die Verlängerung des Ausnahmezustandes abgestimmt, obwohl der Parteivorsitzende und stellvertretende Ministerpräsident, Ismet Inönü, für die Verlängerung um Unterstützung bat. Bedeutet diese Verhaltensweise eine Vertrauenskrise?
31 Fraktionsmitglieder haben für die Aufhebung, 21 für die Verlängerung abgestimmt. Fünf Abgeordnete haben sich ihrer Stimme enthalten. Herr Inönü hat dieses Ergebnis als einen Vertrauensbruch gegen die amtierende Regierung gewertet. Er verlangte eine weitere Abstimmung über die Vertrauensfrage in die Regierung. Daraufhin haben ihm alle anwesenden Abgeordneten mit einer Ausnahme das Vertrauen ausgesprochen. Im Klartext: Die Mehrheit der Fraktion will die Verlängerung des Ausnahmezustandes nicht. Aber sie wollen, daß diese Koalitionsregierung weiter im Amt bleibt. Es klingt widersprüchlich, aber in der Parlamentsarbeit ist das kein seltener Vorgang.
In der Öffentlichkeit wurde kritisiert, daß die Aufhebung des Ausnahmezustandes der PKK nützen würde und das südöstliche Gebiet der Türkei gänzlich dieser bewaffneten kurdischen Organisation überlassen würde.
Ich glaube nicht, daß man am Ende des 20. Jahrhunderts Probleme mit Gewalt lösen kann. Wer die kurdische Frage in der Südosttürkei durch Gewalt lösen will, hat keine Aussicht auf Erfolg. Das gilt für beide Seiten. Der türkische Staat und die kurdische PKK müssen zuerst den Gewaltverzicht üben, um innerhalb demokratischer Verhältnisse friedliche Lösungen zu suchen. Für diese friedliche Lösung muß die kurdische Bevölkerung gewonnen werden. Wir rufen alle zum Gewaltverzicht auf. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen dauern trotz des Ausnahmezustandes an. Dies ist also kein geeignetes Mittel zur Lösung der Kurdenfrage.
Natürlich haben wir in der Türkei noch immer keine befriedigenden Verhältnisse. Über das Kurdenproblem darf immer noch nicht offen gesprochen werden. Man darf nicht vergessen, daß die rechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen jetzt die Demokratisierung voranschreiten soll, aus der Zeit Evrens und Özals stammen. Sie haben repressiven Charakter. Die jetzige Koalitionsregierung will die repressive Verfassung abschaffen und eine vollständige Demokratie aufbauen. Wenn uns das schnell gelingen würde, könnten verschiedene Lösungen der Kurdenfrage frei und ohne Angst gesucht werden. In dieser Hinsicht sollte der türkische Staat den ersten Schritt tun. Jetzt müssen demokratische Verhältnisse hergestellt werden. Dann können kurdische Parteien gegründet werden, wenn die Bevölkerung dies für notwendig hält. Der jetzige Ministerpräsident Demirel hat im letzten Jahr gesagt: „Wir nehmen die kurdische Realität in der Türkei an.“
Ein Viertel der SHP-Abgeordneten stammt aus der prokurdischen Arbeitspartei des Volkes (HEP). Was für eine Mission haben diese Abgeordneten?
Daß diese Abgeordneten als Vertreter der betreffenden Region innerhalb der SHP arbeiten, ist sehr wichtig. Die wissen über die Probleme der Bevölkerung am meisten Bescheid, weil sie überwiegend aus der Südosttürkei stammen.
Die SHP hat diesen Abgeordneten über eigene Listen den Weg zum Parlament geöffnet, weil die HEP sich als eigenständige Partei an den Wahlen am 20.Oktober des letzten Jahres aus formalen Gründen nicht beteiligen konnte. In diesem Sinne hat die sozialdemokratische Partei eine historische Verantwortung übernommen. Die Abgeordneten von HEP-Herkunft sollen nicht nur die Demokratisierungsprozesse unterstützen, sondern sich auch für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage in der Türkei einsetzen. Interview: Özcan Ayanoglu
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