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Aufnahme Sie radeln im Dunkeln gegen die Fahrtrichtung. Die gestifteten Warnwesten wollten sie auch nicht annehmen. Ansonsten läuft’s aber bestens mit den Flüchtlingen in dem Dorf in den österreichischen VoralpenWie Großraming die Angst verlor

AUS GROSSRAMING KARIM EL-GAWHARY

Am 26. November 2014 um 11 Uhr morgens kamen die Flüchtlinge nach Großraming. Zunächst waren es 15 einzelne, die aus dem Bus stiegen, vor allem Syrer. Später folgte noch eine Familie aus Afghanistan, dann eine aus dem Irak.

Großraming ist eine idyllische Gemeinde in Oberösterreich, umrahmt von Bergen der Voralpen. Sie wurde 1997 als „zweitschönstes Dorf Oberösterreichs“ ausgezeichnet. Hier sind die Almen grün, die Täler romantisch und die Bäche klar. Und im benachbarten Nationalpark „Kalkalpen“ sind alle Rad- und Wanderwege gut markiert. „Bei uns bleibt alles, wie es herkömmlich schon immer war“, ist ein im ganzen Ort bekannter Spruch des seligen Stonitsch-Wirts. Es ändert sich nur wenig, und wenn, dann tut man sich oft schwer damit. Etwa als am Ortseingang der Kreisverkehr gebaut wurde: Nach der Einweihung schaffte ausgerechnet ein Polizist des Ortes die Kurve nicht und der Anhänger an seinem Privatauto kippte auf die Fahrbahn.

Schon vor dem besagten Novembertag war vielen klar, wie es herkömmlich war, so wird es nun nicht mehr bleiben. Als der Bus kam, „bin ich mit einem Mordsrespekt dort hingegangen. Ich hatte noch nie etwas mit Syrern zu tun“, erzählt der Bürgermeister Leopold Bürscher etwa ein halbes Jahr später an seinem Küchentisch.

Im Jahr 2012 war er noch froh, sagt er, dass der „Asylanten-Krug“ am Ort vorübergegangen war. Schon damals wollte das Land Oberösterreich dort ein Flüchtlingsheim errichten. Die Diskussion war von Ressentiments geladen. Dass man fortan die Häuser vor Dieben sichern müsse. Dass die Kinder nicht mehr unbeaufsichtigt auf den Schulbus warten könnten. Dass die Frauen des Ortes von den meist männlichen Flüchtlingen sexuell belästigt, wenn nicht sogar vergewaltigt werden könnten. Warum ausgerechnet bei uns, fragten die Großraminger. Letztendlich wurde der Plan mangels geeigneter Unterkünfte verworfen.

Doch mit dem Thema war es nicht vorbei. Im Oktober 2014 sprach sich langsam herum, dass Norbert Kaar, der Wirt des Ennstalerhofes, dem Land Oberösterreich sein Haus für 50 Flüchtlinge vermieten wollte. Vor allem die Anwohner der angrenzenden Aschasiedlung seien auf die Barrikaden gegangen, erzählt der Bürgermeister. Dabei hätten sie sich aber weniger auf die Asylwerber eingeschossen, „sondern eher auf die Vorgehensweise des Landes Oberösterreich und vor allem auf den Wirt.“ Der habe das von langer Hand geplant, hieß der Vorwurf. Der Wirt dagegen vertrat den Standpunkt, ob er Asylbewerber oder Exsträflinge in seinem Haus unterbringe, sei allein seine Sache.

Am 25. November 2014, ein Tag, bevor die Busse erwartet wurden, kam es zu einer bemerkenswerten Dorfversammlung. Eigentlich sollte es nur um die Information gehen, dass im Ennstalerhof nun tatsächlich 50 Flüchtlinge einziehen. Mehr als 200 Bürger waren im „Kirchenwirt“, die Stimmung war angespannt. Denn es hatte sich auch herumgesprochen, wenn eine Gemeinde weniger als 60 Flüchtlinge zugewiesen bekommt, hat sie kein Mitspracherecht.

Mülltrennung könnte etwas schwierig werden

Es ging also nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie. „Ich dachte mir, lass uns das Beste daraus machen“, erinnert sich Bürscher. Die Bürgerversammlung wurde von Mitgliedern der Integrationsstelle des Landes Oberösterreich moderiert. Sie hatten Almut Etz eingeladen, die bei einer Flüchtlinge-Freiwilligen-Plattform in Altmünster, einem anderen kleinen Dorf im Salzkammergut arbeitet.

Neue Ansichten „Du kommst nach Hause und sagst, wie schön, dass mein Haus steht. Darüber haben wir in Großraming früher nie nachgedacht“Elisabeth Leitner betreut in dem kleinen Ort Flüchtlinge

Der Ort im Salzkammergut hatte schon ein Jahr zuvor Flüchtlinge aufgenommen. „Vielleicht werden die Flüchtlinge am Anfang unser Müll­tren­nungs­system nicht verstehen“, sagt sie. Und meint: Wenn das das größte Problem ist …Der Bürgermeister stellte ein Flipchart auf. Wer an einem gelungenen Zusammenleben in Großraming mitarbeiten wolle, der solle sich da eintragen, sagte er. Fast 30 Namen standen am Ende auf dem Plakat. „Da wusste ich, dass das laufen wird“, erzählt der Bürgermeister.

Trotzdem war der Anfang natürlich etwas unbeholfen, auch wegen der Sprachbarriere. Nur einer der Flüchtlinge sprach Englisch. Kurz nach ihrem Einzug in den Ennstalerhof kamen der Bürgermeister und der Pfarrer mit den Kindern der Volksschule zu Besuch. Keiner hat den anderen verstanden, und die Kinder sangen einfach mal ein Willkommenslied.

Fünf Monate später ist von all den wilden Befürchtungen der Großraminger in Sachen Flüchtlinge nichts geblieben. Niemand ist bestohlen, verschleppt oder vergewaltigt worden. Wenn man sich dann zum Bürgermeister, dem Pfarrer und einigen Flüchtlingen an den Tisch setzt, erzählen alle zusammen, wie das läuft. Der Bürgermeister hat eingeladen. Einige Syrer haben bei ihm zu Hause gekocht. Es gibt schon eine gemeinsame Vergangenheit, auf die sie zurückblicken: Ihre Baumschlagaktion etwa gehört dazu. Bei der anschließenden Jause mit Rindfleisch und alkoholfreiem Bier haben sie Fotos gemacht. Bauern und Flüchtlinge rücken nach der Arbeit auf Bierbänken zusammen und prosten sich zu.

Oder die Geschichte vom Weihnachtsgottesdient, bei dem einer der syrischen Flüchtlinge Jesusgeschichten aus dem Koran rezitierte. „Das war echt steil“, sagt der Pfarrer. Oder die mit dem Fahrradfahren. Die Fahrweise der Syrer sei gewöhnungsbedürftig, findet der Bürgermeister. „Sie kommen dir nachts ohne Licht auf der falschen Fahrbahnseite entgegen.“ Und die Leuchtwesten, die eine Baufirma im Dorf gestiftet hatte, wollten sie einfach nicht anziehen. Alle am Tisch lachen.

Mehr als 50 Ehrenamtliche zählt inzwischen die im Dezember 2014 für die Flüchtlingsarbeit gegründete Plattform mit dem Namen „Miteinander in Großraming“. Ein halbes Dutzend sitzt bei Klaudia Winkelmayer von der Katholischen Frauenbewegung im Frühjahr zusammen, um vom vergangenen halben Jahr zu erzählen.

Wie geht man jetzt richtig mit ihren Traumata um?

Die Beziehung zu den Flüchtlingen sei inzwischen herzlich, berichten alle. „Wir sind vor allem für die alleinstehenden Männer so etwas wie der Mama-Ersatz. Sie weinen sich aus, wenn sie über ihre Frauen und Kinder erzählen. Die busseln uns manchmal ab und sagen, wir sind jetzt auch ihre Familie“, erzählt Elisabeth Leitner, die mit ihrem Mann den alten Laden für Raumausstattung als Begegnungscafé zur Verfügung gestellt hat. Sie hatte bei der Ankunft der Flüchtlinge die katholische Frauenbewegung des Ortes mobilisiert. Leitner hatte sich immer gefragt, was sie einmal machen solle, wenn sie in Pension gehe und das Geschäft aufgebe. Vielleicht, überlegte sie, könne sie nach Wien gehen und sich dort sozial einbringen. „Aber dann kam meine neue Aufgabe direkt vor die Haustür“, erzählt sie.

Leitner und Winkelmayer hatten die Flüchtlinge zunächst mit dem Allernötigsten, vor allem mit der vom Dorf gespendeten Winterkleidung, eingedeckt. Aber auch mit menschlicher Wärme. Viele machen sich große Sorgen um ihre Familien.

Einige der Flüchtlinge sind traumatisiert. Das überfordert die Frauen. „Wir dürfen da nicht aktiv nachfragen“, rät die ebenfalls am Küchentisch anwesende Psychotherapeutin Hemma Hammann. Sie hat im Ort die meiste Auslandserfahrung, da sie zwischenzeitlich bei Katastrophen weltweit für das Rote Kreuz im Einsatz ist, als Ausgleich für die kleine Welt Großramings gewissermaßen. Die anderen nicken. „Da werden die Flüchtlinge gefragt, wie war das, als sie dein Kind erschossen haben, wie lange hast du gewartet, bis der Arzt kam? Ah, und dann ist es doch gleich gestorben?“, beschreibt Hammann überspitzt, wie die Anteilnahme schiefläuft.

Das mache den Schmerz nur größer. Flüchtlinge verdrängten oft ihre Geschichten, bis sie sich ganz in Sicherheit fühlten. Das sei so lange nicht der Fall, bis ihr Asylstatus geklärt sei und sie ihre Familien bei sich in Sicherheit wüssten. Das Problem sei, dass sie nicht nur wegen der Nachfragen in Großraming, sondern auch durch das Asylverfahren gezwungen seien, das Leid präsent zu halten. „Da gehen die Psyche und der Behördenweg einen anderen Gang“, fasst die Therapeutin das zusammen.

Ahmad Ajram ist einer von denen, über die so eifrig an Winkelmayers Küchentisch gesprochen wird. Er wohnt in der Einrichtung, über die das ganze Dorf und inzwischen das ganze Land spricht. Alles hat den Flair einer oberösterreichischen Wirtschaft, der Blick nach draußen auf die Berge, im Gastraum wird an einem Tisch Karten gespielt, an einem anderen eine Suppe serviert. Nur dass es in der Küche sehr orientalisch riecht und einem ein Sprachgemisch aus Arabisch, Kurdisch und Afghanisch entgegenschlägt.

Ajrams Zimmer im ersten Obergeschoss ist picobello aufgeräumt, an der Tür wird man gebeten, seine Schuhe auszuziehen. Er teilt es sich mit einem Mitbewohner. Im Zimmer steht ein kleiner Schreibtisch. Unter diesen zwängt er sich, um mit angezogenen Beinen und Armen, den Nacken nach vorne gebeugt, vorzuführen, wie er bei seiner Fahrt nach Österreich 44 Stunden mit drei anderen Flüchtlingen in einem Kasten steckte.

Er war mit dem Boot aus der Türkei nach Griechenland gekommen und wäre dabei fast ertrunken. „Die Überfahrt auf dem Schlauchboot hat mehr als 2.500 Dollar gekostet“, erzählt er. Die Schlepper zeigen einem der Flüchtlinge, wie er den Motor benutzt und wie er sich am Mond orientieren soll. Der darf dann als Einziger unentgeltlich mitfahren“, schildert Ajram. „Dein Leben und die Zukunft deiner Familie hängen von jemandem ab, der keine Ahnung vom Meer hat.“

Am Ende war das Schlauchboot mit Wasser vollgelaufen. Doch da waren sie schon so weit, dass er sich an Land retten konnte. Von dort wurde Ajram per Lkw in dem Kasten bis nach Österreich geschmuggelt. Das kostete ihn noch einmal 7.500 Dollar. 44 Stunden später ließ sie der Fahrer kurz hinter der ungarischen Grenze heraus.

Ahmad Ajram hat Dinge erlebt, die man sich im friedlichen Europa kaum vorstellen kann. Zunächst wurde sein Laden für Anzugstoffe in Aleppo zerstört. Dann eroberten syrische Rebellen die Straße, in der er mit seiner Frau und seinen fünf Kindern lebte. Daraufhin wurde die Straße von Regimetruppen bombardiert. Ein Nachbar und dessen Kinder kamen dabei um. Ajram floh daraufhin mit seiner Familie und seinen Kindern Richtung türkische Grenze. Unterwegs sahen sie, wie von Helikoptern aus Fassbomben abgeworfen wurden. „Wir haben auf den Tod gewartet, aber er kam nicht“, sagt er.

Schließlich hatte es die Familie bis nach Istanbul geschafft. Dort beschlossen sie, dass Ajram alleine versuchen sollte, nach Europa zu kommen. Sie hatten gerade genug Geld, um die Schlepper für eine Person zu bezahlen.

15.000 in einer Woche

Land: Flüchtlinge, die von Ungarn aus ins westlichere Europa wollen, durchqueren oft Österreich. Jeden Tag landen dort Hunderte in den Erstauffanglagern. In der vergangenen Woche haben mehr als 15.000 die ungarisch-österreichische Grenze überquert. Das österreichische Innenministerium rechnet mit 80.000 Neuankömmlingen bis zum Jahresende. Rund die Hälfte der Kommunen hat mittlerweile Flüchtlinge aufgenommen.

Dorf: Einige Flüchtlinge aus Syrien sind schon vor gut einem Jahr in Großraming angekommen, einem kleinen Dorf in Oberösterreich. Ihre neue Heimat liegt 170 Kilometer westlich von Wien. Die Gemeinde im Ennstal im Steyr-Land hat etwa 2.700 Einwohner. Sie machte Anfang des Jahres nach einer großen Flüchtlingsdebatte und der daraus entstandenen Initiative „Miteinander in Großraming“ Schlagzeilen.

Die Familie zurücklassen oder das Leben von Frauen und Kindern auf gefährlichen Fluchtrouten riskieren? Es ist das klassische Dilemma, in der Flüchtlinge stecken. Ahmad Ajram reiste alleine weiter, in der Hoffnung, seine Familie so schnell wie möglich nachholen zu können, wenn er in Europa als Flüchtling anerkannt wird.

Kaum war er weg, warf der Vermieter in Istanbul seine Frau und seine Kinder aus ihrer Wohnung, ohne die sechs Monate im Voraus bezahlte Miete zurückzuzahlen. Ohne Geld kehrten sie nach Aleppo zurück. Auf dem Weg wurde seine zwei Jahre alte Tochter Sima von einem Scharfschützen angeschossen. Auf seinem Handy zeigt Ajram das Foto seiner verletzten Tochter und ein anderes, früheres. Mit einer Stoffblume im Haar und blauen Augen lächelt sie in die Kamera. Sima wurde notoperiert und überlebte.

Und dann kam auch noch die Nachricht, dass eine Fassbombe das Haus seiner Tante getroffen hatte. Ihre beiden Kinder starben, seiner Tante musste ein Bein amputiert werden. Als er das erzählt, fängt er an zu weinen. Er zittert. „Ich habe gesehen, wie Menschen in die Luft fliegen und zerrissen werden“, sagt er. Besonders nachts schießen all diese Erlebnisse durch seinen Kopf, sagt er.

Es ist weit nach Mitternacht auf seinem Zimmer. Als er sich wieder beruhigt hat, lobt er die Dorfbewohner. Sie seien ausgesprochen nett und hilfsbereit. Aber in der für ihn wichtigsten Sache könnten sie ihm nicht helfen: einen positiven Asylbescheid zu bekommen und endlich seine Familie nachzuholen. Am schlimmsten, sagt er, sei die Angst, dass ihr noch mehr zustoßen könnte.

Das war vor ein paar Monaten. Inzwischen hat Ajram seine Anerkennung als amtlicher Flüchtling bekommen. Er ist nach Wien gezogen, wo er eine Wohnung und dann eine Arbeit sucht, um seine Familie nachholen zu können.

Von der Bitterkeit sei wenig übrig, sagt der Tierarzt

Ingrid Scherabon und Rudolf Huber haben von ihrem Garten aus einen wunderbaren Blick auf die Voralpen und den 1.513 Meter hohen Almkogel, auf dem an diesem sonnigen Frühlingstag noch der Schnee glänzt.

Die beiden Tierärzte haben einst den Widerstand im Dorf gegen das Flüchtlingsheim angeführt, das direkt bei ihnen nebenan liegt. „Vor allem, dass es ursprünglich hieß, es kämen nur junge, männliche Flüchtlinge“, habe ihr Sorgen gemacht, erzählt Scherabon. „Und auch die schiere Anzahl.“ In der Aschasiedlung leben 70 Menschen, dazu kommen 50 Flüchtlinge, rechnet ihr Mann vor. Von der ursprünglichen Bitterkeit sei aber wenig übrig, sagt Rudolf Huber. Zur Hälfte lebten ja Flüchtlingsfamilien im Ennstalerhof. Und alle seien freundliche und offene Menschen. Nur manchmal wird dem Paar die Lautstärke zu viel. „Ich bin wegen der Stille aus der Stadt hierhergezogen, wir sind nicht hier, um ein Weltstadtgefühl zu bekommen“, sagt die Tierärztin. Dann fügt sie aber hinzu: „Irgendwo ist das ein gutes Gefühl, dass wir es ihnen ermöglichen, hier endlich zur Ruhe zu kommen.“

Ihr Ärger richtete sich zu diesem Zeitpunkt vor allem noch gegen den ehemaligen Wirt, der, so haben sie ausgerechnet, im Jahr mehr als 200.000 Euro einstreiche. Das Tierärztepaar hat alles durchgerechnet. „Es käme genauso teuer, Wohnungen, selbst in der Stadt, anzumieten“, die Flüchtlinge in kleineren Einheiten unterzubringen und sogar noch ein paar Sozialarbeiter mehr anzustellen.

Den Vorschlag hätten sie auch der Soziallandesrätin gemacht. Doch bisher: keine Antwort. „Es hätte viel mehr Vorteile, die Flüchtlinge privat in kleineren Einheiten unterzubringen, so wie das einst auch mit jenen geschah, die vom Bosnienkrieg nach Österreich geflohen waren“, findet auch die Psychotherapeutin Hammann von Großraming Miteinander. Die Integration wäre auch einfacher. Aber das Land argumentiere, das stelle einen zu großen Verwaltungsaufwand dar.

Es sind kleine Dinge, die die Tierärzte beschäftigen. Sie sind gegen den Spielplatz für die Flüchtlingskinder, den die Plattform vorgeschlagen hat. Der könne auch woanders gebaut werden. Rudolf Huber wird kurz wütend, weil die Gemeinde vor 15 Jahren in der Siedlung einen Spielplatz geschlossen habe, gerade als seine Kinder klein waren. Aber dann wischt er seine Worte mit einer Geste vom Gartentisch. Das seien nicht wirklich große Probleme. „Eigentlich läuft es eh ganz rund“, sagt er.

Al-Ayash übersetzt: „Engel fliegen einsam“

Firas Al-Ayash ist mit Ahmad Ajram zusammen im selben Kasten nach Europa geflohen. Das schweißt zusammen. Auch er ist von seiner Familie getrennt. Die lebt in Deera, im Süden Syriens, an einem Ort, der zwischen Rebellen und Regime schwer umkämpft ist. Al-Ayash ist ein anderer Typ als Ajram, der irgendwann nicht mehr aufhört zu reden. Al-Ayash frisst mehr in sich hinein. Er erzählt seine Geschichte ruhig und sachlich.

Als er den Einberufungsbefehl zur syrischen Armee bekam, wollte er nicht in diesem grausamen Bürgerkrieg kämpfen. Er packte das Nötigste und floh mit der Hilfe von beduinischen Schleppern durch die Wüste, ausgerechnet in die Hochburg des „Islamischen Staates“, nach Raqqa. Aber das war die einzige Fluchtroute Richtung Norden, die nicht durch Regimeterritorium führte, wo ihm drohte, als Deserteur verhaftet zu werden.

In Raqqa war er eine Woche eingesperrt, weil die IS-Dschihadisten dachten, er sei ein Spion des Regimes. Dann ging es weiter und schließlich klappte auch einer seiner unzähligen Versuche, von der Türkei nach Griechenland zu kommen. Seine Flucht bis nach Österreich dauerte drei Monate und kostete 12.000 Euro.

Al-Ayash ist ein gebildeter Mann. Er zeigt sein Doktordiplom der Agrarwissenschaft mit Auszeichnung, seine Ernennung zum Chef eines Forschungszentrums für Saatgut in Syrien und seinen Einberufungsbescheid. Die Originalpapiere hat er sich von seiner Frau nach Österreich schicken lassen. Es sind die einzigen Beweise seines bisherigen Lebens und seine einzige Hoffnung, mit ihrer Hilfe in Österreich als Flüchtling anerkannt zu werden und seine Familie nachholen zu können. Der syrische Einberufungsbefehl sollte ausreichen, ihn als Flüchtling anzuerkennen. Doch nach fünf Monaten ist er noch nicht einmal von den Asylbehörden in Linz angehört worden.

Er versucht, das Beste daraus zu machen und sich geistig fit zu halten. Bringt sich mithilfe von ein paar Wörter- und Grammatikbüchern selbst Deutsch bei und macht die Hausaufgaben, die ihm die ehrenamtlichen Lehrer aus Großraming aufgeben. Auf dem Schreibtisch liegt ein Liedtext der österreichischen Sängerin Christina Stürmer, den al-Ayash gerade übersetzt: „Engel fliegen einsam“.

Al-Ayash wartet auch heute noch auf seine Anerkennung. Aber immerhin, er hat schon mehrere Jobangebote und eine Praktikumsstelle an der Wiener Universität für Bodenkultur in Aussicht. Wenn es denn so weit wäre.

Am Küchentisch von Klaudia Winkelmayer kennen alle die Geschichten von Al-Ayash und Ajram, die sie hier bei ihren Vornamen nennen. Der Firas, der Ahmad. Hemma Hammann sagt: „Mein erster Lotto-Sechser war, in Großraming geboren worden zu sein, jetzt kann ich wenigstens etwas davon zurückgeben.“ Elisabeth Leitner fasst es so zusammen: „Du kommst nach Hause und sagst, wie schön, dass mein Haus steht. Darüber haben wir in Großraming früher nie nachgedacht.“

Beim Hauptproblem stehen aber auch die Helfer machtlos da. Alle brauchen einen Anhörungstermin beim Amt für Fremdenwesen und Asyl in Linz. Das kann schon mal neun Monate dauern und frustriert auch die Helfer, die Flüchtlinge nach Linz begleiten. Auch sie bekommen dort kaum Auskünfte, die Namen von Sachbearbeitern werden nicht preisgegeben, bei denen man nachfragen kann, und auch ihnen wird mitgeteilt, dass sich in der Urlaubszeit sowieso alles verzögert.

Nichts ist mehr, wie es herkömmlich schon immer war. „Irgendwie ist es ohne die Flüchtlinge auch ein wenig fad gewesen“, meint Klaudia Winkelmayers Mann Bernhard: „Wenn man immer nur in der Harmonie versinkt, ist das auch nichts.“ Manchmal brauche es im Leben eine Provokation oder Störung, um weiterzukommen.

Karim El-Gawhary,51, ist taz-Korrespondent in Kairo. In seinem neuen Buch „Auf der Flucht. Reportagen von beiden Seiten des Mittelmeeres“, das er zusammen mit Mathilde Schwabeneder verfasst hat, geht es nicht nur um Großraming, sondern um Geschichten rund um die Flucht. Vom Irak, den Flüchtlingslagern im Libanon über die ägyptische Küste und Italien bis zu dem kleinen Dorf in Oberösterreich. Das Buch ist gerade bei Kremayr & Scheriau erschienen.

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