Aufklärung des RAF-Terrorismus: Zeitreise nach Stammheim
Die Rote Armee Fraktion (RAF) ist längst Teil der politischen Folklore. Doch ihre Geschichte ist häufig noch ungeklärt. Auch dagegen soll der Verena Becker-Prozess helfen.
Schon wieder RAF? Noch immer? Ist nicht alles gefilmt, geschrieben, gesagt? Gab es nicht genügend Prozesse und Urteile? Reicht es nicht langsam?
Die RAF hat sich vor zwölf Jahren aufgelöst. Seitdem hat sie ein vitales mediales Nachleben, das widerspiegelt, was sie war. Grau melierte Ex-RAF-Kämpfer treten in Talkshows auf und erinnern daran, dass es zwischen RAF und Medien von Anbeginn eine stille Allianz gab. Die RAF war nichts ohne Medien, und für manche Medien war die Melange von Politik, Gewalt und Geheimnis jahrzehntelang eine Art Elixier. RAF sells.
Seit der Auflösung der Gruppe 1998 schien alle zwei, drei Jahre ein öffentlicher Hysterieanfall nötig zu sein, mit dem das RAF-Gespenst noch einmal ausgetrieben werden konnte. 2004 wurde eine Kunstausstellung in Berlin zu einer Art Staatsaffäre. Konservative Politiker forderten wie in den 70er Jahren Distanzierung von der Gewalt, als würde hier mit Sprengstoff und nicht mit Bildern hantiert. Die Freilassung von Christian Klar 2007 nach 26 Jahren Haft wurde in einigen Boulevardblättern inszeniert, als hätte der Leibhaftige persönlich in Berlin-Mitte Quartier bezogen.
Seitdem ist es an der RAF-Front einigermaßen ruhig. Der von Bernd Eichinger produzierte Film "Baader Meinhof Komplex" wurde 2008 als nationales Großereignis vermarktet. Der kommerzielle Erfolg des auf Authentizität und Action getrimmten Films zeigte den neuen Ort der RAF in der Popkultur an. "Wir erleben", hatte Klaus Theweleit 2004 analysiert, "die Überführung der RAF aus einem historischen in einen mythologischen oder folkloristischen Raum. Die RAF hat eine Funktion wie Billy The Kid, Calamity Jane oder Schinderhannes, losgelöst von der konkreten Geschichte - und das wird wohl auch so bleiben. RAF ist zum Zeichen geworden für Anti-Staat, sein Leben aufs Spiel setzen, Gewalt und sexuelle Libertinage."
Der "Baader Meinhof Komplex" hat unfreiwillig gezeigt, dass die RAF als Pop funktioniert, aber nicht mehr als Lackmustest für politische Identitäten. Die große Debatte fiel aus, es fehlten auch brauchbare Feindbilder. Die Konservativen hatten stets mit viel Hingabe die "Sympathisanten" unter Generalverdacht gestellt. Und die undogmatische Linke hatte anfangs, gleichermaßen fasziniert und angewidert, auf die RAF geschaut. Denn die RAF diente in den frühen 70er Jahren als Projektionsfläche für die Gewaltfantasien vieler Linksradikaler. Aber auch diese Verbandlung der Post-68er mit dem Terrorismus ist längst Geschichte. Jenseits von hermetisch abgedichteten Kleinstgruppen gibt es in der Linken niemanden, der der RAF im Rückblick irgendeine moralische oder politische Legitimation zubilligen würde.
So gibt es im öffentlichen Bild der RAF eine doppelte Bewegung. Sie ist zu einem Label in der Popkultur geworden, das je nach Konjunktur immer mal wieder Mode ist, manchmal sogar als schriller Radical Chic wie in der Prada-Meinhof-Fotostrecke. Andererseits ist die RAF, wie auch die Roten Brigaden, zum Studienobjekt der Zeitgeschichte geworden. Es werden Biografien über Täter und Gesamtdarstellungen verfasst, manche mit Empathie geschrieben, andere rüde abrechnend.
Die Autoren sind oft Zeitgenossen oder Ex-Linksalternative (wie Gerd Koenen und Jan Philipp Reemtsma), die auch immer ihre eigene Geschichte mit- und umschreiben. Daneben wächst die Zahl von Studien, die den Linksterrorismus streng wissenschaftlich unter die Lupe nehmen und dessen Geschlechterbeziehungen oder internationale Verflechtungen untersuchen, so wie man eben auch die Rentenreformen in der Bundesrepublik erforscht.
Die RAF wird historisiert. Sie verschwindet, trotz Fieberschüben wie bei der RAF-Ausstellung, langsam als affektiv aufgeladenes Streitobjekt, bei dem sich diskursive Gewinne machen lassen. Die RAF spaltet sich auf: in ein flüchtiges Popzeichen und einen Forschungsgegenstand, über den Habilitationen geschrieben und Professuren angepeilt werden.
Daneben klafft in der RAF-Geschichtsschreibung allerdings ein schwarzes Loch. Die bundesdeutsche Justiz ist in Sachen RAF gescheitert. Die meisten Taten aus den 80er und 90er Jahren sind bis heute nicht aufgeklärt. Viele Verurteilungen von RAF-Mitgliedern fußten auf dem eigens für die RAF geschaffenen Paragrafen 129 a, der die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zur Schwerstkriminalität stempelte.
Wegen der RAF wurden seit den 70er Jahren eilig neue Gesetze erlassen, Verteidigerrechte eingeschränkt, dubiose V-Männer in die Gruppe eingeschleust, Bürgerrechte verletzt. RAF-Mitglieder wie Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar wurden ohne Gnade ein Vierteljahrhundert in den Knast gesteckt. Doch die Härte, mit der Staat und Justiz gegen die RAF vorgingen, hat nicht viel genutzt. Die RAF gab 1998 nicht auf, weil ihre Kombattanten im Knast saßen oder sie vom BKA besiegt worden war, sondern weil auch die verbohrtesten Ideologen nach dem Untergang des Realsozialismus begreifen mussten, dass es vorbei war.
Wer Ernst Zimmermann, Karl Heinz Beckurts, Gerold von Braunmühl, Detlev Karsten Rohwedder oder Alfred Herrhausen getötet hat, ist bis heute unklar. Das liegt auch am ungebrochenen Korpsgeist vieler Ex-RAFler. In einem anonymen Brief vom Mai 2010, den die junge Welt veröffentlicht hat, beschreiben anonyme Ex-RAF-Kämpfer, was sie noch zusammenhält: gemeinsames Schweigen. "Keine Aussagen zu machen, ist keine Erfindung der RAF", heißt es dort. Wie im "Widerstand gegen den Faschismus" sei es lebenswichtig gewesen, "in der Gefangenschaft nichts zu sagen, um die, die weiterkämpfen, zu schützen". Das war, so die Darstellung, "selbstverständlich" und eine Frage der Identität.
Die Rhetorik des Textes ist zugänglicher als die erratischen Kommandoerklärungen früherer Jahre, doch der Geist ist der gleiche. Hier Staat und Kapital, dort das gusseiserne antifaschistische RAF-Wir, dem man nur als Verräter oder Toter entkommt. Die ideologischen Rechtfertigungen des Terrors sind längst in Trümmer gefallen, doch etwas bleibt: das Kollektiv, das schweigt und jede individuelle Auseinandersetzung mit Schuld zum Verrat erklärt. "Das ändert sich nicht dadurch", heißt es trotzig am Schluss der Erklärung, "dass die RAF Geschichte ist."
Die fortwährende RAF-Omertà und der hochgerüstete Justizapparat waren wie zwei Zahnräder, die ineinandergreifen. Die RAF-Kämpfer schwiegen und schweigen eisern, um die Auseinandersetzung mit individueller Schuld zu vermeiden. Diese Verdrängung hat einen scheinbar plausiblen Grund: Wenn die RAF die Wahrheit offenlegen würde, könnten auch bislang Unbekannte vor Gericht und im Knast landen. So werden die Täter, vermutet der Historiker Wolfgang Kraushaar, ihr Wissen wahrscheinlich mit ins Grab nehmen.
Daran wird wohl auch der neuerliche Prozess gegen Verena Becker nichts ändern. Gespenstisch wirkt nicht nur, dass dieser Prozess wie in einer Zeitreise in Stuttgart-Stammheim stattfindet. Merkwürdig vertraut ist auch, dass Spiegel und Spiegel TV passend zur Prozesseröffnung "Geheimdokumente" und sensationsheischend Aussagen von Ex-RAF-Mitgliedern wie Peter-Jürgen Boock, (den Ex-BKA-Chef Herold mal den "Karl May der RAF" nannte) hervorzaubern. Die Angeklagte Verena Becker wird schweigen. Viel spricht dafür, dass nebulös bleibt, ob der Verfassungsschutz seine Informantin Becker damals vor einer Mordanklage bewahrte.
Die Alternative hat Carolin Emcke, Journalistin und ein Patenkind des RAF-Opfers Alfred Herrhausen, vor zwei Jahren beschrieben: ein Forum der Aufklärung, in dem ein Tausch stattfinden kann. Die Justiz verzichtet auf Strafverfolgung, die Ex-RAF-Kämpfer brechen dafür ihr Schweigen.
Es gibt beachtenswerte Einwände gegen diese Idee. Ein Rechtsstaat braucht sehr gute Gründe, um auf Strafverfolgung zu verzichten. Die Gefahr, dass die RAF zu etwas Besonderem geadelt und ihre Hybris retrospektiv bekräftigt wird, liegt auf der Hand. Auch ob die RAF-Kämpfer souverän genug wären, auf ihren letzten Halt, ihr kollektives Schweigen, zu verzichten, bleibt offen. Doch ziemlich sicher ist, was ohne ein solches Forum passiert. Die Morde bleiben unaufgeklärt.
Eine abschließende Bewältigung der RAF-Geschichte aber wird es nicht ohne die konkrete Wahrheit geben, wer geschossen, wer die Morde geplant hat. "Betrauern, endgültig betrauern", so Emcke in ihrem Essay "Stumme Gewalt", "lässt sich nur, was wir wissen."
Michael Buback, Corinna Ponto und Jörg Schleyer, Kinder von RAF-Opfern, fordern, dass die Bundesregierung alle Akten für die Forschung öffnen soll und Beamte uneingeschränkt aussagen dürfen. Das ist einleuchtend. Staatsräson ist nach 30 Jahren kein ausreichender Grund für Geheimniskrämerei.
Zu wissen, wer was warum tat, auch warum die RAF sich schließlich auflöste, wäre auch ein Mittel, um das mediale Gespenst RAF zu erlösen. Nichts imprägniert besser gegen Legendenbildung und die Verwandlung der RAF in Pop.
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