: Aufbau Ost gleich Abbau West?
Carl Zeiss will 3.000 Jobs kürzen / Belegschaft West protestiert, sie müßte für Verluste im Osten büßen / Auch im Osten kämpfen Zeissianer ■ Von Annette Jensen
Berlin (taz) – „Wir sitzen doch alle im selben Schlamassel“, versucht Betriebsrat Willy Theilacker seine Kollegen zu beruhigen. Vergeblich. Viele Zeiss-Leute im schwäbischen Oberkochen glauben, daß vor allem die Übernahme des ostdeutschen Betriebs, wo Zeiss seinen Ursprung hatte, für die katastrophale wirtschaftliche Situation ihrer Firma verantwortlich ist. Bis zu 3.000 Mitarbeiter will der Glas- und Optikgerätehersteller in den nächsten zwei Jahren rausschmeißen. Im Westen sollen es über 1.500 sein – die meisten davon an den beiden Standorten im Osten Baden-Württembergs. Im thüringischen Jena sind 600 Jobstreichungen geplant. Weitere 500 Mitarbeiter will der Konzern im internationalen Vertriebs- und Servicenetz einsparen.
„Obwohl wir Millionen überweisen, wollen sie uns um den Arbeitsplatz bescheißen“ und „Aufbau Ost, Abbau West – wir sagen nein“ hatten Zeissianer von der Ostalb auf Plakate geschrieben, mit denen sie am Donnerstag Abend gegen den Arbeitsplatzabbau protestierten. Der baden- württembergische Wirtschaftsminister Dieter Spöri (SPD) heizte den Ost-West-Konflikt weiter an: Firmenstandorte in seinem Ländle dürften nicht für Verluste im Osten bluten. „Es fällt auf, daß die baden- württembergischen Standorte, die nicht einmal 20 Prozent zum aktuellen Konzernverlust beitragen, über doppelt so viele Arbeitsplätze verlieren sollen als Carl Zeiss Jena.“ Er versprach der Belegschaft die Unterstützung seines Landes. Bezahlen soll nach Spöris Vorstellung allerdings vor allem der Bund. Schließlich seien die Probleme vor allem auf das Ostengagement zurückzuführen. Tatsächlich wurden von den 180 Millionen Mark Verlusten, die Ende September in der Bilanz standen, 140 Millionen in Thüringen eingefahren. „Aber keine rote Mark ist vom Osten nach Westen geflossen“, widerspricht der Regierungssprecher in Erfurt, Hans Kaiser, dieser Lesart. Die Treuhand habe das Ergebnis ausgeglichen und für die Privatisierung 1991 eine Mitgift in dreistelliger Millionenhöhe zur Verfügung gestellt.
„Wir werden den Wegfall so vieler Arbeitsplätze hier in Thüringen nicht hinnehmen“, so Kaiser. Schließlich habe das Land, das noch mit 49 Prozent über die Jenoptik an Carl Zeiss Jena beteiligt ist, ein Wörtchen mitzureden. Der Regierungssprecher verwies auf einen Vertrag vom Januar dieses Jahres. Damals war der von der Geschäftsführung gewünschte Abbau von 800 Stellen an die Bedingung geknüpft worden, daß es bis Ende 1995 zu keinen weiteren Entlassungen kommen werde. Auf eine glatte Halbierung der Belegschaft innerhalb von nur zwei Jahren liefe das Oberkochener Konzept hinaus, schimpft der Betriebsratsvorsitzende in Jena, Jürgen Dömel, und kündigt ebenfalls Widerstand an.
Der Unternehmensrat, eine Art Aufsichtsrat der als Stiftung organisierten Firma, begründet die Krise von Zeiss vorwiegend mit Nachfrageproblemen. Wehrtechnik, Maschinenbau, Automobilindustrie und öffentliche Hand – alle hätten in den letzten Jahren erheblich weniger bestellt als vorher. Hinzu komme die Parallelproduktion in Ost und West. Außer der Massenentlassung steht deshalb auch eine Umstrukturierung auf dem Programm. Die Bodenvermessungstechnik soll in Jena konzentriert werden, während die Luftbildvermessung ganz nach Oberkochen verlagert wird. Die Zeiss-Manager wollen außerdem die Fertigungstiefe verringern und einige mechanische und optische Vorprodukte künftig in „benachbarte Niedriglohnländer“ verlagern.
Der bisherige Zeiss-Vorstandschef Jobst Hermann, den viele für die Schieflage des Konzerns verantwortlich machen, wird die Umstrukturierung nicht mehr lenken. Er hatte vorgestern dem Unternehmensrat seinen Rücktritt angeboten. Das Gremium nahm das Angebot an.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen