: Auf zur Freizeit-Gewerkschaft
Peter Glotz über die Perspektiven der Arbeiterbewegung in bewegter Zeit ■ I N T E R V I E W
taz: Sie haben ein düsteres Bild für die Gewerkschaften gezeichnet, wenn sie sich nicht modernisieren. Was muß sich ändern?
Peter Glotz: Ich glaube, die Gewerkschaften müssen sich insbesondere stärker auf Europa einstellen. Wir bekommen mit dem „Binnenmarkt 92“ eine völlig neue Situation, die Gefahr einer Unterbietungskonkurrenz. Und da darf es nicht so sein, daß das Kapital internationalistisch ist, die Gewerkschaften aber national. Und ich glaube zweitens, die Gewerkschaften müssen den Menschen dahin folgen, wo sie sich bewegen. Früher war das im Betrieb. Sie müssen natürlich auch heute im Betrieb bleiben. Aber sie müssen zukünftig den Menschen auch in die Freizeit folgen. Meine These ist: die Gewerkschaften müssen Kulturorganisationen werden, nicht nur Tariforganisationen, Betriebsorganisationen, sondern auch solche, die sich um den Freizeitbereich systematisch kümmern.
Sie haben mehrere Punkte angeführt, wie die Gewerkschaften sich reformieren müssen, um die „modernen“ Beschäftigtengruppen zu erreichen. Sie haben allerdings nichts dazu gesagt, wie die Gewerkschaften in Zukunft auf die Probleme niedergehender Industrien und Berufszweige etwa in der Stahlindustrie reagieren können.
Ich glaube schon, daß ich das getan habe, und zwar mit dem Stichwort Beschäftigungspläne. Hier gibt es eine in der IG Metall selbst begonnene hochinteressante Diskussion. Das heißt also: nicht warten, bis es bricht, man zum Sozialplan gezwungen wird, wie in Rheinhausen, sondern vorher schon an das Problem rangehen. Bei Grundig in Nürnberg wurde zum Beispiel ein paritätisch besetzter Ausschuß „Neue Produkte“ gegründet, in dem mit dem Betriebsrat diskutiert wird: Was machen wir, wenn die alten Produkte sich nicht mehr verkaufen lassen? Die Unternehmerverbände sind natürlich gegen solche Ausschüsse. Aber ich glaube, daß das die beste Möglichkeit ist, um vorlaufend eine aktive Beschäftigungspolitik zu machen.
Sie haben für eine Politisierung der Gewerkschaften plädiert. Welche Veränderungen im Verhältnis zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften ergeben sich dadurch?
Wir müssen den Gewerkschaften zugestehen, daß sie sich politisieren...
...auch gegenüber einer eventuellen sozialdemokratischen Regierung?
Selbstverständlich auch gegenüber einer eventuell sozialdemokratischen Regierung. Sie kriegen ihre sehr unterschiedlichen Mitglieder nur noch organisiert, wenn sie auch über Ökologie, über die Frauenfrage und internationale Fragen Programme entwickeln. Und das heißt, daß die klare Aufgabenteilung: Ihr Gewerkschaften seid für die Wirtschafts - und Arbeitsbeziehungen zuständig und wir Parteien für alles andere - daß die unklarer wird. Das heißt, man muß sich genauer absprechen. Der alte Bewegungs- und Kampfcharakter der Gewerkschaften darf nicht aufgegeben werden. Und er ist nur erhaltbar, wenn sich die Gewerkschaft politisiert.
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