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„Auf einmal warf ihm die Staatsmacht Verrat vor“

Seit über einem halben Jahr ist Boualem Sansal jetzt in Haft in Algerien. Ein Interview mit Najem Wali vom PEN-Deutschland

Verurteilt zu fünf Jahren Gefängnis: Boualem Sansal Foto: E. Laurent/dpa

Interview David Bieber

taz: Herr Wali, Boualem Sansal gilt als das Gesicht der zeitgenössischen algerischen, vielleicht maghrebinischen, Literatur. Warum?

Najem Wali: Vielleicht, weil er der Literat dort ist, der sich mit dem offiziellen Narrativen seines Landes am konkretesten auseinandersetzt – er stellt unbequeme Fragen, die die Geschichte in Frage stellen. Sansal, das wird deutlich anhand der literarisch bearbeiteten Themen und Komplexe, ist ein kritischer Geist und kein Freund von einfachen Antworten. Obwohl oft auf seine Islamismuskritik reduziert, ist er ein Autor, der die gesamte Integrität seines Landes in Zweifel zieht. Darüber hinaus kritisiert Sansal seit Jahren die Zustände in Algerien sowie die drohende Gefahr durch Islamismus.

taz: Warum wurde Sansal in seiner Heimat Algerien vor sechs Monaten überhaupt inhaftiert?

Wali: Sansal habe, so das offizielle Narrativ Algeriens, mit seinen jüngsten Äußerungen zur Grenzziehung zwischen Algerien und Marokko den Streit zwischen Frankreich und Algerien weiter angeheizt, der aktuell über die Westsahara-Frage entbrannt ist. Sansal hatte zuletzt in Frankreich ausgerechnet dem als rechtsextrem geltenden Onlineformat Frontières ein Interview gegeben. Seine seit Jahren vorgetragene Kritik am Islamismus war für die französische Rechte ein gefundenes Fressen. Er hatte das in Kauf genommen, obwohl Sansals Freunde immer wieder in ihn drangen, doch keinen Applaus von der falschen Seite zu akzeptieren. Er goss Öl ins Feuer. Algerien sieht die rechte Szene in Frankreich als Erben der kolonialistischen Zeit. Die algerischen Machthaber verzeihen keiner Person, aus welchem Grund auch immer, die mit ihnen liebäugelt.

taz: Was sagt die Inhaftierung des 75-Jährigen über das Land Algerien aus?

Wali: Viel. Etwa wie willkürlich alles dort stattfindet. Sansal kritisierte die Zustände in Algerien sowie die drohende Gefahr durch Islamismus seit Jahren. Bisher war ihm nichts passiert. Jetzt auf einmal warf ihm die Staatsmacht Verrat vor. Plötzlich war viel von verletzten Nationalgefühlen die Rede, die staatliche algerische Nachrichtenagentur bezeichnete Sansal als „Pseudointellektuellen“, der unterstützt würde von der ganzen „anti­algerischen“, „prozionistischen“ Szene Frankreichs.

taz: Sansal besitzt neben der algerischen auch die französische Staatsbürgerschaft. Ist durch seine Verhaftung auch das Verhältnis zur ehemaligen Kolonialmacht Frankreich gestört?

Wali: Ja, in jeder Hinsicht. Sansal ist leider zwischen die Fronten geraten. Er ist von beiden Seiten instrumentalisiert und missbraucht worden. Beide Länder liegen im Clinch. Sie tragen ihren Konflikt über ihn aus. Weder bei Frankreich noch bei Algerien geht es aber um Boualem Sansal selbst. Ansonsten hätte nach Sansals Inhaftierung keine Pressekonferenz seitens Macron stattfinden sollen. Der französische Präsident hätte damals nicht den algerischen Präsidenten Tebboune öffentlich vor der Presse angreifen sollen. Er hätte einfach den Hörer nehmen und mit ihm telefonieren sollen. Von Staatsmann zu Staatsmann. Macron sollte eigentlich wissen, wie in Algerien alles gesellschaftlich funktioniert. Mit seiner Pressekonferenz hat er die Sache verschlimmert.

taz: Hat der PEN Deutschland Kontakt zu Sansal? Wenn ja, wie setzt er sich für seine Freilassung ein?

Foto: Emanuela Danielewicz

Najem Wali

hat zahlreiche Romane verfasst. Seit Mai 2023 ist er Beauftragter des ­Programms Writers-in-Prison / Writers-at-Risk und damit einer der Vize­präsidenten des PEN Deutschland. Heute lebt er als freier Schriftsteller und Journalist in Berlin.

Wali: Es geht jetzt bei uns, dem PEN-Zentrum Deutschland, und bei mir persönlich als Writers-in-Prison-Beauftragter darum, Sansal freizubekommen. Was es bedeutet, in Gefangenschaft zu sein, weiß ich aus eigener Erfahrung. Daher weiß ich auch, wann es wichtig ist zu sprechen und wann zu schweigen notwendig ist. Wir sind seitens der Regierungen gebeten worden, für geraume Zeit den Ball flach zu halten, heißt, ruhig zu bleiben, weil es wohl Verhandlungen gibt. Für mich ist klar, solange eine Schriftstellerin oder ein Schriftsteller in Haft sitzt, ist keiner von uns frei.

taz: Sansal hat 2011 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommen. Wie wichtig ist jetzt diese Auszeichnung?

Wali: Durch sie wurde er einem größeren Publikum in Deutschland bekannt. Dank des Preises mehren sich auch hierzulande die Stimmen, die seine Freilassung fordern. Einen Aufruf dazu, aufgesetzt von der Geschäftsstelle des Friedenspreises und dem Online-Magazin Perlentaucher, haben zahlreiche Autorinnen und Autoren, Friedenspreisträgerinnen und Friedenspreisträger und vier Literaturnobelpreisträger unterzeichnet und andere Institutionen. Ohne den Friedenspreis hätte diese breite Solidarität nicht stattfinden können

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