piwik no script img

kabolzschüsseAuf der Suche nach Berlins randigster Randsportart

Orientierungslauf

Glaubt man dem Chefideologen der bürgerlichen Mittelschicht Ulrich Beck, befinden sich viele Jugendliche lediglich auf einem individualisierten Orientierungslauf zu sich selbst. Doch eine solche Vergoldung der Verhältnisse übersieht, dass stattdessen eine starre Orientierung an den Richtlinien der kapitalistischen Ellenbogenmentalität existiert. Als Zerrbild davon treiben jugendliche Neonazis diese dann auf die Speerspitze. Der im Turnsport angesiedelte Orientierungslauf dient ihnen dabei schon mal als einzelkämpferische Wehrsportübung.

Aber wie im Leben, so gibt es auch beim Orientierungslauf viel mehr sympathische Sportler als Glatzenspacken auf Schnitzeljagd. So bestehen Berliner Orientierungsläufer darauf, schon in der Routenplanung Ruhezonen für das Wild und Schutzgebiete großzügig zu umlaufen. Auf die verantwortungsvolle Hege des natürlichen Sportplatzes Wald wird ebenfalls geachtet. Man ist schließlich nicht bei der Love-Parade.

Diese Sichtweise wurde von Revierförstern nicht immer geteilt. Erst 1998 gelang es Landesfachwart Gerhard Brettschneider, die Forstämter und den Berliner Turnerbund nach 1988 wieder zu Landesmeisterschaften in den Müggelbergen zu überreden. Heute müssen nicht mehr so viele Marathon-Pfadfinder notgedrungen im Brandenburger Umland trainieren. Und im Mai 2000 finden in Berlin sogar die Deutschen Mannschaftsmeisterschaften statt.

Orientierungslauf kombiniert Geländelauf mit Orientierung. Dabei gewinnt, wer am schnellsten alle Posten angelaufen hat. Ist ein Kontrollpunkt nicht abgestempelt, rutscht der Wegsuchende eine Kategorie hinter die Allesfinder. Auf der bis zu 14 Kilometer langen Suche nach den rot-weißen Schirmchen ist die speziell angefertigte Landkarte das wichtigste Sportgerät. Sie weist die Navigationskünstler im Maßstab 1:15.000 auf etwaige Unwegsamkeiten wie Zäune oder Dickicht hin.

Das allein reicht jedoch nicht aus, um sie vor einem Dasein als umherirrende Waldschrate zu bewahren. Deshalb gibt es den Plattenkompass am Handgelenk, der durch den Richtungspfeil das Visieren erleichtert. Noch schneller fluppt es aber mit dem handlicheren Daumenkompass.

Dazu informiert der 1990 gegründete Kaulsdorfer Orientierungs- und Laufsportverein Berlin (KOLV): „Neben Kraft, Schnelligkeit und Ausdauer entwickelt sich vor allem die Fähigkeit, unter komplizierten Wettkampfbedingungen schnelle Entscheidungen zu treffen.“

Und die KOLVer zeigen ein gutes Gefühl für diese Mischung. Im November 2000 gewannen sie überlegen ihre eigene Veranstaltung, den 10. Nebel-Cup. Nun putzen sie ihre Dobspikes-Schuhe schon für den 25. Schneeflocke-OL des Orientierungslaufvereins Potsdam. In diesem Rahmen werden am 27. Januar in Ravensberge die Landesmeisterschaften auf der Langstrecke ausgetragen.

Auch für den Crosslauf „Rund um die Kaulsdorfer Seen“ im März trainieren alle Altersklassen von 8 bis 88 Jahren im KOLV gemeinsam. „Das spornt vor allem die Kinder an, da sie sich selbständig mit den Großen messen können“, begründen KOLVer ihr familiäres Selbstverständnis.

Glatzenspacken auf Schnitzeljagd sind ihnen bei ihren Forsterkundungen allerdings noch nie über den Waldweg gelaufen. Und ein ausgesetzter Ulrich Beck würde sich in den Müggelbergen bestimmt auch verlaufen. GERD DEMBOWSKI

Auf der Außenseiterskala von null bis zwölf: 8 Punkte

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen