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Auf der Schwelle der Gewalt

■ Die Anzeichen mehren sich: Gorbatschow nimmt Abspaltung Litauens nicht hin

Vilnius/Moskau (afp/taz) - Die sowjetische Regierung nähert sich gefährlich der Schwelle offener Gewaltanwendung gegenüber dem unabhängigen Litauen. Ein Fallschirmjägerregiment wurde nach Vilnius verlegt, „um staatliche Einrichtungen zu schützen“. Die Republik wurde bis auf weiteres Ausländern verschlossen, ausländische Journalisten müssen das Land verlassen. In der Nacht zum Dienstag sind Fallschirmjäger der Roten Armee in drei Krankenhäuser von Vilnius eingedrungen, um nach Deserteuren zu fahnden. Es gelang ihnen, 23 desertierte litauische Soldaten festzunehmen, der Rest konnte entfliehen. Die Festgenommenen wurden geschlagen, ein amerikanischer Fernsehmann mußte sein Material herausgeben. Einheiten der Roten Armee besetzten außerdem das ZK-Gebäude der unabhängigen Kommunistischen Partei in Vilnius und das Parteihaus in Klaipeda, dem alten Memel. Staatspräsident Landsbergis verurteilte die Überfälle als „barbarisch“. Die jungen Litauer seien rechtswidrig in eine fremde Armee eingezogen worden. Er selbst habe ihnen geraten, in den Kirchen Zuflucht zu suchen. Der Kommandant der sowjetischen Truppen in Litauen, Warennikow, behauptete, die Deserteure hätten in den Kliniken eine Spezialausbildung der Sajudis erhalten und seien mit falschen Pässen ausgestattet worden. Warrenikow warf in einem 'Prawda'-Interview vom Dienstag der litauischen Regierung außerdem zum wiederholten Male vor, sie werbe Freiwillige für eine „Landwehr“ an. Der Vorsitzende der unabhängigen KP Litauens, Brasauskas, versicherte derweil, Gorbatschow sei über das Vorgehen der Armee nicht informiert. Gorbatschow selbst hat unterdessen Senator Edward Kennedy erklärt, Gewalt würde nur angewendet, wenn Menschenleben in Gefahr seien. Litauens Präsident Landsbergis darauf: „Mit anderen Worten, es wird Gewalt angewandt werden, denn diese Gefahr kann von der Sowjetunion leicht herbeigeführt werden.“ Landsbergis äußerte sich bitter über die bisherige Haltung des Westens. Er befürchtet ein stillschweigendes Abkommen der USA mit der Sowjetunion zum Nachteil der litauischen Unabhängigkeit. „Die Situation erinnert an 1939“ sagte er, auf den Hitler-Stalin-Pakt anspielend. Trotz der Sperre für Ausländer ist am Dienstag eine polnische Delegation der Solidarnosc in Vilnius gelandet, um der Sajudis ihre Solidarität auszudrücken.

C. S.

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