Auf dem Lande nüchtern werden

BAUERNHOF Das gemeinnützige und mildtätige Unternehmen „die Fleckenbühler“ betreibt bei Marburg einen Gutshof. Seine Mitarbeiter sind ehemalige Drogenabhängige

Gerade für Süchtige sind die Bewegung und die Arbeit an der Luft ungemein wichtig

VON DIERK JENSEN

„Landwirtschaft erdet.“ In diesen zwei Worten steckt viel Wahrheit. Wenn er aus dem Munde von Uwe Weimar kommen, wiegt dieser Satz umso schwerer, hat ihm das Wirtschaften mit dem Acker und das Arbeiten mit Tieren doch ein neues Leben gegeben. So feierte der 46-Jährige im März dieses Jahres seinen 11. Geburtstag, jenen Monat vor elf Jahren, als er als Drogenkranker zum landwirtschaftlichen Hof Fleckenbühl bei Marburg kam und dort von heute auf morgen mit seinem früheren Suchtleben brach, brechen musste. Denn auf Hof Fleckenbühl gibt es eine unumstößliche Regel: Wer von der Hofgemeinschaft aufgenommen werden will, in der gegenwärtig mehr als 120 ehemalige Drogensüchtige selbsthelfend leben, arbeiten und wohnen, muss den Drogen entsagen. Viele scheitern an dieser Hürde, einige schaffen es, bleiben, schlagen Wurzeln. Zu ihnen gehört auch Uwe Weimar, der im Mittelhessischen aufwuchs, dann eine Ausbildung zum Gärtner absolvierte und sich schon in ganz frühen Jahren, wie er sich ausdrückt, „aktiv um Drogen bemühte“ und viele Jahre hinweg in Abhängigkeit lebte und am Ende in schwere Depressionen fiel.

Das war einmal. Heute ist er, nach entbehrungsreichen Anfangsjahren, Betriebsleiter Feldwirtschaft auf dem hessischen Hof, der urkundlich schon Mitte des 13. Jahrhunderts erwähnt wurde und 1984, halb verfallen, von der Berliner Selbsthilfeorganisation für Drogensüchtige, Synanon, erworben wurde. Die Initiatoren verwirklichten sich damit ihren Traum, in einem landwirtschaftlichen Betrieb ein Leben ohne Drogen zu führen. Dafür wurden mittlerweile alle Gebäude aufwendig renoviert, und auf den Feldern pflanzte man auf eine Länge von sechs Kilometern neue Hecken an. Im Jahr 1995 trennte sich die Hofgemeinschaft schließlich von Synanon, und seit 2009 firmiert sie unter dem Namen „die Fleckenbühler“.

„Gerade für Süchtige sind die Bewegung an der Luft und die Arbeit mit Lebendigem ungemein wichtig“, erzählt Weimar. „Wer Verantwortung für Tiere übernimmt, kann auch wieder Verantwortung für sich selbst übernehmen.“ Er weiß, wovon er spricht. Mit einer wechselnden Mitarbeiterschaft organisiert er die Bewirtschaftung von rund 250 Hektar Nutzfläche, auf denen er eine siebengliedrige Fruchtfolge einhält. Sein Ziel ist es, den Humusgehalt langfristig zu steigern.

Auf dem Hof, der Mitglied im biologisch-dynamischen Anbauverband Demeter ist, werden zuallererst Klee, Gras und Futtergetreide für 72 Kühe angebaut. Darüber hinaus wird Brotgetreide erzeugt, Gemüse gezogen und Obst kultiviert. Außerdem gibt es eine Ziegenherde, die gemolken wird.

Die Weiterverarbeitung der eigenen Rohstoffe spielt eine wichtige Rolle im Wirtschaftskonzept des Hofes, der vor einigen Jahren als einer von 200 Demonstrationsbetrieben des ökologischen Landbaus in Deutschland ausgewählt wurde. Neben der Hausschlachterei, in der herzhafte Wurstwaren gefertigt werden, und einer Bäckerei in Frankfurt ist es die Käserei, die mit pikanten, handwerklich anspruchsvollen Produkten schon weit über Hessen hinaus Liebhaber gefunden hat. „Mit dem Käse versuchen wir das meiste Geld zu verdienen“, freut sich Weimar in dem schmucken Hofladen über ein qualitätsorientiertes Sortiment; ein Hofcafé, das im Sommer Stühle und Bänke auf den gepflasterten Innenhof des bauhistorisch wertvollen Baukörpers hinausstellt, lädt Besucher zum Verweilen ein.

„Mit unserer Arbeit decken wir die Hälfte aller Kosten, die anfallen“, betont Weimar das wirtschaftliche Handeln trotz aller therapeutischer Intentionen. Apropos Therapie: Auf dem Hof gibt es keine Therapeuten, die die Exdrogensüchtigen betreuen. „Niemand kann einen Drogensüchtigen so gut durchschauen wie ein Drogensüchtiger selbst“, verrät Weimar etwas von der kompromisslosen Methodik eines „kalten“ Entzugs auf dem Selbsthilfehof, der nicht von der Krankenkasse finanziert wird. Regelmäßig finden Gesprächsrunden statt, auf denen schonungslos Schwächen und Probleme angesprochen werden. Jeder, der hier lebt, wird in die Gemeinschaft integriert; dies wird sehr deutlich bei den Mahlzeiten, die in einer hofeigenen Küche zubereitet und im großen Speisesaal gemeinsam eingenommen werden.

Obgleich vieles ermutigend ist, komme aber niemand freiwillig hierher, sagt Uwe Weimar beim Rundgang durch das denkmalgeschützte Gebäudeensemble – weit davon entfernt, das Leben auf dem Hof zu idealisieren. „Dennoch sind wir für viele Drogenabhängige die letzte Chance. Und: Jeder kann so lange bleiben, wie er möchte“, fügt er hinzu und zeigt uns den neuen Tiefboxenlaufstall und den Melkstand, in dem der 23-jährige Auszubildende Markus Tanz und sein Kollege Wolfgang Rostig rotbunte Kühe melken. Auch der Blick in die Offenställe für die Nachzucht, in die just renovierte Veranstaltungsscheune und den Ziegenstall im alten Gemäuer demonstrieren eindrucksvoll, was der Selbsthilfeorganisation an diesem historischen Ort in einem Vierteljahrhundert trotz aller Rückschläge gelungen ist: ein soziales Gefüge in landwirtschaftlicher Umgebung zu schaffen, das erdet und vielen Erwachsenen und Kindern unterschiedlicher Nationalitäten ein neues Leben ermöglicht. Beispielhaft.

www.diefleckenbuehler.de