: Auf Faktensuche in der Todeszelle
Über Wirklichkeitskriterien kann man reden, aber muß man sie auch filmen? Beim Leipziger Dokfilmfestival beeindruckten vor allem Beiträge, in denen sich die Genregrenzen mit denen des Thrillers oder der Comedy vermischten ■ Von Detlef Kuhlbrodt
„Gott schreibt die besten Romane“ und „die Realität ist stärker als die Fiktion“. Fred Gehler, der Leiter des 39. Leipziger Dokfilmfestivals, gebrauchte in seiner Eröffnungsrede die üblichen Zitate, um sich des größeren Realitätsgehalts und der potentiellen Wirkungsmacht dokumentarischer Bilder zu versichern. „Sehen, was wirklich ist“ war das Motto des Festivals, das Sonntag zu Ende ging.
Wobei die Kriterien für das Wirklichsein durchaus verschieden sind. Sehr erregte sich Gehler etwa über einen Leipzig-Artikel aus dem Spiegel, in dem der jung-kreative Schwung der sächsischen „Boomtown“ geschildert wurde. Selbstbewußt und kapitalistischer als der Westen. Alles „manirierter Schwachsinn“, fand Gehler. Die Wirklichkeit der Stadt, deren Slogan „Leipzig kommt“ seit Jahren eher auf Probleme mit dem avisierten Kommen hindeutet, sehe anders aus. Letzte Woche wurde der syrische Asylbewerber Ahmet K. am hellichten Tag vor einem Gemüseladen erstochen; Flanierkarten für den Opernball hätten über hundert Mark gekostet; und daß 13.000 Leute bei der Stadt angestellt seien, deute auch nicht gerade auf fröhliche Goldgräberstimmungen.
Was Wirklichkeit ist, ist umstritten, und die Spiegel-Wirklichkeit kam später auch vorbei. Stolz berichtete Egbert Pietsch vom Leipziger Stadtmagazin Kreuzer, daß er der Reporterin die Stichwörter geliefert habe. Während er meinte, der Artikel sei eher „schwachsinnig“ gewesen, nütze aber seiner Zeitung, fand ein anderer seine Stadt durchaus treffend getroffen. Wirklichkeitskriterien werden selber immer wieder, mal selbstgewiß, mal fragend, in Dokumentarfilmen thematisiert. Klassisch lehrreich in Recherchefilmen, wie etwa „Mord in Stockholm“ von Burkhard Nagel und Klaus Knapp, in dem eine Verschwörung rechtsradikaler Polizisten gegen Palme angedeutet wurde, aufklärerisch in den antifaschistischen Filmen des kürzlich verstorbenen Erwin Leiser, dem das Festival eine Retrospektive gewidmet hatte; oder mit dem Blick sowohl auf soziale Wirklichkeit als auch auf die Geschichte ihrer Erzählung in der verdienstvollen Retrospektive iranischer Dokfilme, sozial engagiert in dem ungarischen Film „Schrott“ von Tams Almsi, der – ein Dokpendant zu den düsteren Filmen Bela Tarrs – von Arbeitslosen in der ehemaligen Hüttenstadt Ozd in Nordungarn handelt. Mehrdeutige „Biographien“, wie man mit leichtem Pathos im Osten zu sagen pflegt, werden verfolgt, wie die des amerikanischen Kommunisten „Noel Field“, der als angeblicher amerikanischer Spion zur Schlüsselfigur osteuropäischer Nachkriegsprozesse wurde und fünf Jahre in ungarischen Geheimgefängnissen verbrachte. Der bewundernswert recherchierte Film des Schweizers Werner Schweizer wurde mit dem Egon-Erwin- Kisch-Preis belohnt. Nach dem Ungarnaufstand, als seine früheren Freunde aus der KP austraten, war Field, der im Osten blieb, glücklich, endlich das Parteibuch der ungarischen KP zu bekommen. Ob er tatsächlich amerikanischer Spion war, läßt der Film offen.
Weil die Wirklichkeit schlecht eingerichtet ist, steht der Dokumentarfilm auf der Seite der Unterdrückten. Nicht immer überzeugt diese Parteinahme, wenn etwa die kanadische Filmemacherin Marie Claude Harvey im Auftrag von „Ärzte ohne Grenzen“ acht Tage ins sudanesische Niemandsland zwischen den Bürgerkriegsfronten fährt, um einen pathetischen Hungerfilm zu machen, in dem sie sich auch bei ihrem Kameramann bedankt, der ihr das Leben gerettet habe. Oder wenn der mit dem Mercedes- Benz-Preis (20.000 Mark) belohnte indische Regisseur Arvind Sinha in „Ajit“ das allzu glatte Porträt eines achtjährigen Sohns landloser Bauern zeichnet, der in Kalkutta reiche Leute bedient. Filme, die gutgemacht genau das erzählen, was der Zuschauer erwartet.
Andere verzichten auf jeden Kommentar, wie der Schweizer Erich Landjahr in seiner „Sennenballade“ (Preis des Umweltministers), oder der auch auf diesem Festival gefeierte Erstlingsfilm von Sergei Losniza, „Heute bauen wir ein Haus“. Vielleicht, weil er die russischen Klischees eines durchaus sehr komischen Mangels an zielorientiertem Arbeiten auf einer Baustelle kommentarlos schildert – am Ende steht das Haus doch und ist schön –, wurde er auch in Leipzig gefeiert. Wieder andere verknüpfen ihre eigene Geschichte mit der Kolonialgeschichte ihres Landes, wie der in den USA lebende philippinische Regisseur Marlon E. Fuentes („Bontoc Eulogy“), oder sie befragen, in dem wunderschönen französischen Film „Bosnia Hotel“, zwei Krieger aus dem kenianischen Stamm der Samburas über ihre Zeit bei der UN-Friedenstruppe in Bosnien. „Es schneit dauernd in diesem Land“, sagt einer von ihnen, „wenn es nicht schneit, regnet es.“ Die Bosnier sind nicht in erster Linie Muslime, „sie sind weiß“.
Gegen die markthörigen Kurz- und Eindeutigkeitswünsche seiner Auftraggeber, des Fernsehens, nimmt sich der Dokumentarfilm die Zeit, die es braucht, um dem verlogenen Faktenfetischismus zu entkommen und oft vieldeutige Geschichte zu erzählen. Das wurde in Leipzig nicht immer belohnt. Während der sterbenslangweilige Talking-Heads-Film „Wir wären so gerne Helden gewesen“, in dem 68er aus der DDR ausufernd belanglose Geschichtchen erzählen, mit einer lokalpatriotischen silbernen Taube belohnt wurde, ging die ukrainisch-britische Koproduktion „Kennst du kein Leid – verlieb dich in mich“ leer aus. An dem unglaublich beeindruckenden Porträt über einen jungen tschetschenischen Mafioso, der im russischen Knast auf die Vollstreckung seines Todesurteils wartet, wurde bemängelt, daß seine Dramaturgie zu sehr der eines Thrillers entspreche. Das mag richtig sein, doch weshalb Spannung ein Nachteil sein soll, ist nicht ganz einleuchtend. „Kennst du kein Leid“, sozusagen das Dokfilmpendant zu „Dead Man Walking“, wird – wenn er denn einen Verleih findet – Furore machen. In zwei Stunden zeigte er, daß Dokfilme – ohne sich zu prostituieren – aufregender sein können als jede Serial-Killer-Ballade.
Von der Langeweile, die einen oft bei anderen Spielfilmfestivals befällt, war bei dem angenehm entspannten Leipziger Festival nichts zu spüren. Manches war auch sehr komisch, etwa, daß ich die sympathischen Pressebetreuer von der letzten Berliner Sexmesse her kannte.
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