Auf Auswärtsfahrt mit Union Berlin: Es war einmal in Madrid
Union Berlin feierte sein historisches Champions-League-Debüt beim Rekordmeister Real Madrid. Kein Wunder, dass die Mauerfallvokabel die Runde machte: Wahnsinn.
Unions Supportervereinigung Virus, kurz für „Verein Infizierter Rotweißer Union-Supporter“, hatte ein paar Charterflieger organisiert. Finanziell und ökologisch alles schwierig, aber wenn Fußballfantum zu etwas verleitet, dann zum Nicht-drüber-Nachdenken in außergewöhnlichen Situationen. Und eine solche lag ja definitiv vor mit dem ersten Champions-League-Spiel in der Köpenicker Vereinsgeschichte.
Man merkte es schon beim Abholen der Tickets letzte Woche am Union-Stadion An der Alten Försterei. Mitten an einem Wochentag führten drei Schlangen zu den Fensterluken direkt am Wald der Wuhlheide. Aufgekratzte Stimmung unter den Wartenden. Das schürte Erinnerungen an einen Septembertag im Jahr 1987, als ein kleines Kassenhäuschen im Treptower Park stand, an dem allen Ernstes Karten für ein „Friedenskonzert der FDJ“ mit Bob Dylan verkauft wurden.
10 Mark für den Messias, unglaublich. 36 Jahre später hatte man plötzlich ein personalisiertes Ticket für ein Heimspiel von Real Madrid in der Hand. Die alte Mauerfallvokabel machte wieder die Runde: Wahnsinn. Begleitet vom individuellen Newsaustausch vor allem zum Thema Reiserouten. So viel war klar, viele Flugwege von Unionern führten nach Madrid, von Stuttgart, Hamburg, Frankfurt, Amsterdam und in meinem Fall vom BER.
Köpenicks „Reisekader“
Am Mittwoch ging's los. Morgens halb fünf auf dem S-Bahnhof Adlershof, viele Frühgestalten in Rot. Spontane Flugplanvergleiche und erste Kennenlerngespräche mit Mitreisenden oder wie es fanseitig gern heißt: Unions „Reisekadern“, in Anspielung auf den kleinen Teil der DDR-Elite, dem es erlaubt war, ins nicht-sozialistische Ausland zu reisen. Irgendwas Ostiges wird immer ironisch gepflegt.
Rolf, rotes, ausgeblichenes FCU-Basecap, rotes T-Shirt „Union international“ mit einer Weltkugel in der Faust, kennt den Begriff Reisekader noch gut. Er gehörte in der DDR nicht zu ihnen. Rolf arbeitete als Physiker nach seinem Studium in Moskau ab 1985 in Adlershof, aber Westreisen waren für ihn tabu, erzählt er. Dafür beteiligte er sich an Reisen zu den Sternen. Entwickelte Satellitentechnik mit, erstmals 1988 für die Reise zum Mars-Mond Phobos, konkret ein Messgerät zum Bestimmen des Magnetfelds auf dem Trabanten. 1996 hat er dann hauptverantwortlich eine Software für einen Mars-Satelliten programmiert.
Dazwischen hatte sich für ihn die Welt ordentlich gedreht. Mauerfall, nun war sein Leben komplett neu zu programmieren. Auch das Union-Fansein. 1970/71 hatte Rolf sein erstes Union-Spiel gesehen. 1988, als er das erste Mal an einem Raketenausflug beteiligt war, gab es das legendäre 3:2 in Karl-Marx-Stadt, bei dem Union in letzter Sekunde den Klassenerhalt sicherte. 1996, bei Rolfs zweiter Mars-Mission, spielte Union in der Regionalliga Nordost, gegen die Reinickendorfer Füchse und Optik Rathenow.
Und nun, am Mittwoch, war er unterwegs nach Madrid. Zum „größten Spiel der Vereinsgeschichte“, wie er sagt. Was für eine Reise. Von Köpenick zum Heimatplaneten der Galaktischen, wie das erfolgsverwöhnte Real Madrid auch genannt wird. Das Losglück fürs Ticket ins Bernabeu-Stadion brauchte Rolf natürlich auch, denn seine „Eisern Card“ für lebenslang freien Eintritt, die er vor 15 Jahren zu Regionalligazeiten für 2.222 Euro kaufte, gilt nur für die Heimspiele von Union. Wenn es nicht Real geworden wäre in der Gruppe, sondern Schachtjor Donezk, die ihre CL-Heimspiele in Hamburg austragen, hätte er sich übrigens auch gefreut. Nach Kriegsbeginn hatte Rolf mit seiner Frau eine ukrainische Familie in seinem Haus aufgenommen und ihr auch eine Wohnung in Marzahn besorgt. „War nicht einfach.“ Das Leben besteht ja nicht nur aus Union.
Chaos beim Einlass
Am Mittwoch aber dann doch. Nicht nur für ihn, sondern für tausende Fans, die sich am Mittag auf dem Plaza Puerta del Sol im Zentrum Madrids eingefunden hatten. Der Platz ist offiziell der geografische Mittelpunkt Spaniens (selbstverständlich wurde leicht getrickst), weshalb sich viele ausländische Touris gern hier am Null-Kilometerstein fotografieren. In der Mittagssonne, wo der Platz von roten gekleideten Berlinerinnen und Umland-Berlinern übervölkert war, machten Asiatinnen und Südamerikanerinnen nun jedoch Selfies mit dem auffälligen Pulk im Hintergrund. Unioner als Madrider Touristenattraktion, das fanden sie toll. Die Polizisten weniger. Sie drängten die zum Fanmarsch entschlossenen Fans in die U-Bahnstation. Am Ende kamen trotzdem alle zeitig am fünf Kilometer entfernten Stadion Bernabeu an.
Etliche Unionfans hatten sich Tickets im Heimbereich organisiert. Teilweise, indem sie Mitglied bei Real Madrid wurden. Die Spanier haben jetzt geschätzt einige hundert neue Vereinsmitglieder, für ein Jahr. Die Unionfans im Auswärtsblock erlebten am Einlass chaotische, provokant langwierige und teils schikanöse Kontrollen von Polizei und Security. Transparente und Banner waren verboten. Am Ende konnten nicht alle Fans die Champions-League-Hymne vor dem Anpfiff erleben. 300 Union-Ultras verzichteten deswegen trotz Tickets sogar auf den Stadionbesuch, was Unions Fansolidarorganisation „Eiserne Hilfe“ auf X, vormals Twitter, fragen ließ, ob Real das erste Mal internationale Spiele mit Auswärtsfans ausrichte.
Das Spiel selbst, bei dem die Berliner Chants das Madrider Operettenpublikum ziemlich übertönten, endete fast mit einem Remis. Wäre da nicht wieder so eine letzte Minute gewesen, die in die Union-Geschichte eingeht. Diesmal mit einem Tor, das den allerersten Champions-League-Punkt verhinderte. Aber gut. „Das Spiel war trotzdem toll und macht diese Reise für mich keinen Deut weniger besonders und historisch“, sagte Rolf, während wir nachts um zwei am Flughafen in der Schlange an den Check-in-Schaltern standen. Dort wurde es noch mal leicht konfus, weil die richtigen Zuordnungen der Flüge offenbar doch eine Raketenwissenschaft sind. Aber am Ende sind aber alle wieder in Berlin gelandet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen