■ Auf Augenhöhe: Das Hongkong-Fieber
Neulich bei Carolina hatten sich die Kinder als Gespenster verkleidet, hatten bunte und auch weiße Laken über einen Luftballon und einen Stock geworfen und tobten „Huhuhu“-rufend durch die Wohnung. Nicht nur Carolina hatte sich erschrocken. Nach dem Frühstück war aber alles wieder im Lot. Die Ballons und Laken lagen in der Ecke, und die Kinder widmeten sich wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung: dem Aufbau und Abriß provisorischer Behausungen aus Tischen, Stühlen, Brettern und Teppichresten. „Na, also“, seufzte Carolina, „da ist es wieder, das Hongkong-Fieber.“
Noch Tage später fragte ich mich, wo sich die Kinder in Carolinas WG das Fieber eingefangen hatten. Im Westend, jenem beschaulichen Teil von Charlottenburg, in dem es außer den vierzehntäglichen Heimspielen von Hertha nichts Aufregendes gab, konnte es nicht gewesen sein. Wo aber dann? Überhaupt! Gab es dieses Fieber noch? Wann hatte ich zuletzt daran gelitten?
Die Suche nach dem Hongkong-Virus führte mich zuerst ins Kino. Im Blow Up in Prenzlauer Berg, meinem Hinterhofheimatkino, lief Peter Changs „Hongkong Love Affair“. Ich sah viel über Aufbau, Abriß und Baustopp in Sachen Liebe, vom Hongkong- Fieber sah ich nichts. Das war fast so enttäuschend wie meine letzte Reise nach New York, wo ich ganze zwei (in Zahlen: 2!) Baukräne gesehen hatte.
Ausgerottet war es nicht, das wußte ich. Zwei der vier Architekten in meinem Bekanntenkreis hatten gerade wieder Arbeit gefunden und eine erfolgreiche Therapeutin verriet mir neulich, daß immer mehr ihrer Klienten den „Turm“ als Tarotkarte zögen. „Sie ahnen offenbar“, sagte die erfolgreiche Therapeutin, „daß das Leben immer wieder darin besteht, Türme zu besteigen und von ihnen herabzustürzen, sich neue Zöpfe zu flechten und alte abzuschneiden.“ Aber selbst am Potsdamer Platz mit seinen drei Hochhaustürmen ist nicht mehr viel zu spüren vom Schwindel über abgrundtiefen Baugruben oder der Schwingung schwebender Eisengitter. Der Potsdamer Platz hat fertig und mit ihm ganz Berlin. Berlin ist eben nicht, wie es so schön heißt, dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein. Berlin ißt Currywurst und nicht Hongkong.
Außer in der Zimmerstraße. Ich habe es erst vorgestern entdeckt, auf dem Weg zu Lidl, weil bei Penny die Eistruhe leergeräumt war. Es war wie ein Kindheitsbild, das einen plötzlich anspringt. Beinahe hatte ich vergessen, wie es sich anfühlt, wenn der Rohbau langsam aus der Grube wächst oder die Betonbomben drohend an den Kränen pendeln. Und gestern abend, auf dem Nachhauseweg, hörte ich plötzlich seltsam vertraute Geräusche. Ich drehte mich um und sah: brummende Abrißbagger, spratzende Wasserstrahlen, Fensterruinen, hinter denen der Himmel zu sehen war. Mitten in der Friedrichstraße. Sofort rief ich bei Carolina an. „Wann waren die Kinder zuletzt in der Friedrichstraße?“, wollte ich wissen. „Als bei den Galeries Lafayette die Glasscheiben aus der Fassade fielen“, antwortete Carolina. „Ich dachte schon, ich sehe Gespenster“, sagte ich. Uwe Rada
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