: „Auch Honecker wurde nicht angeklagt“
Zweiter Mauerschützenprozeß in Berlin eröffnet/ Pressetrauben vor der Tür/ Verteidiger beantragt Einstellung des Verfahrens/ „DDR-Strafrecht wird nachträglich uminterpretiert“ ■ Aus Berlin Ute Scheub
Pressetrauben vor dem Verhandlungssaal: Vor der 18. Strafkammer des Landgerichts begann gestern der zweite „Mauerschützenprozeß“ gegen zwei frühere DDR-Grenzsoldaten. Der jetzt 30jährige Elektriker Uwe Hapke und der nun 26jährige Fleischer Udo Walther sollen einen Flüchtling an der Berliner Mauer erschossen haben. Die Angeklagten konnten sich im Gerichtssaal den lauernden Fotografen entziehen, nur der Vater des Getöteten geriet mit äußerlich gefaßter Miene ins Blitzlichtgewitter. Der häßlichen Szenen im immer noch laufenden ersten „Mauerschützenprozeß“ gedenkend, bei der Pressevertreter sogar im Saal Fotos von der kugelzersiebten Leiche Chris Gueffroys verteilt hatten, mahnte die Vorsitzende Richterin Ingeborg Tepperwien gleich zu Beginn des Verfahrens, die Menschenwürde der Angeklagten und der Angehörigen des Opfers zu achten.
Die Angehörigen: Damit war die im Saal sitzende Familie Schmidt gemeint, deren damals 20jähriger Sohn Michael-Horst nach einer Diskonacht im Jugendklub und erregten Diskussionen über die DDR den einsamen Entschluß faßte, über die Mauer zu fliehen. Am 1. Dezember 1984 kurz nach drei Uhr morgens hatte er mittels einer Leiter bereits den ersten Teil der Grenzanlage in der Nähe der Wollankstraße überwunden und den oberen Teil der Mauer umklammert, als ihn die beiden Grenzposten von ihrem Turm aus entdeckten. Laut Anklage ließen es zuerst Udo Walther und danach Uwe Hapke nicht bei Warnschüssen bewenden, sondern feuerten rund 30 Schüsse aus ihrer Kalaschnikow auf den Flüchtenden ab. Horst-Michael Schmidt wurde in ein DDR-Krankenhaus überführt, wo er drei Stunden später seinen zahlreichen Verletzungen erlag. Familie Schmidt jedoch erfuhr erst volle vier Tage später, nachdem die Stasi schon eine Schein-Suchaktion gestartet hatte, die schreckliche Wahrheit.
Daß sie diesem Prozeß entgegenfieberte, ist ihr wahrlich nicht zu verdenken. Doch ob man den Geschehnissen mit juristischen Mitteln gerecht wird, ist hier genauso die Frage wie beim ersten „Mauerschützenprozeß“, der ob der ungelösten Rechtsfragen weiter vor sich hindümpelt. Das war auch der Grund dafür, daß die Verteidiger zweier Angeklagter gestern in beiden Prozessen mit einem gleichlautenden Antrag zum rechtlichen Befreiungsschlag ausholen wollten. Da aber das erste Verfahren aus anderen Gründen vertagt wurde, kam nur Wolfgang Panka als Anwalt des Fleischers Udo Walther zum Zuge. Volle zweieinhalb Stunden lang begründete er, warum der Prozeß aus seiner Sicht ausgesetzt werden müsse: Der Schutz der Landesgrenzen sei „ein legitimes Anliegen der DDR und jedes anderen Staates“ gewesen. Diese „jungen Wehrpflichtigen“ hätten sich „nicht von den Grenzposten jedes anderen Landes unterschieden“. Das Handeln der Angeklagten sei somit ein staatlicher Akt gewesen. Die Soldaten hätten sich damals sicherfühlen können, daß sie nie und nimmer nach DDR-Recht wegen Totschlags angeklagt werden würden. Wenn dies nun doch geschehe, dann werde das DDR-Strafrecht „nachträglich uminterpretiert“. Das aber könne nicht sein, denn die Formel „nulla poena sine lege“ — eine Bestrafung kann nur nach einem zur Zeitpunkt der Tat bereits existierenden Gesetz erfolgen — sei ein internationaler Standard, der selbstredend auch für die Bundesrepublik gelte.
Nach zahlreichen Exkursen auf Rechtsfälle in Äthiopien, Israel, Senegal, Irland, Neufundland und anderswo führte der Anwalt auch eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs von 1984 an. Kurz vor einem Besuch des damaligen DDR-Oberhauptes Erich Honecker hatte ein ehemaliger DDR-Bürger das Gericht angerufen: Er wollte Honecker wegen Freiheitsberaubung festsetzen lassen. Mit dem Verweis, die DDR sei seit dem Grundlagenvertrag von 1972 ein souveräner Staat, lehnten die Richter das Ansinnen ab. Doch wenn Honecker dieses Privileg gehabt habe, so der Verteidiger, so müsse das auch für die Angeklagten gelten. Der Prozeß ist vorläufig bis zum 12. Februar terminiert.
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