Attac-Kapitalismuskongress: Mehr Ratlosigkeit als Aufbruch
2.500 Leute, mehr als erwartet, nehmen am Kapitalismuskongress von Attac teil. Sie wollen verstehen, was in der Krise überhaupt passiert ist. Alternativen wurden nicht geboten.
Jazzmusik läuft im Auditorium der Technischen Universität in Berlin, bevor die Auftaktveranstaltung des Kapitalismuskongresses des globalisierungskritischen Netzwerks Attac am Wochenende beginnt. "Capitalism - [no] exit" und "Kapitalismus am Ende?" lauten dessen Titel. Jemand hat Jazziges eingelegt - nicht Techno, Pop oder Rock. Eine Randnotiz? Vielleicht. Jazzmusik, der liegt ein Motiv zugrunde. Darauf wird improvisiert. Schon der englische und der deutsche Titel sind Variationen aufs Thema.
Vor eineinhalb Jahren hat Attac mit der Planung dieses Kongresses begonnen. Aber die Finanzkrise kam schneller. Aus der Ausgangsfrage, wie der Kapitalismus eigentlich funktioniert, wurde die Frage, wie der Kapitalismus zu einem "Kasinokapitalismus" werden konnte. Wer hat daran wie mit welchen Interessen mitgewirkt? Und welche Folgen hat das? Wie sehr solche Fragen den Leuten auf den Nägeln brennen, das zeigt schon der Zulauf. Statt der erwarteten 1.500 Leute kommen 2.500.
Die meisten treibt die Ratlosigkeit zum Kongress. "Da ist etwas passiert und ich verstehe es nicht", sagt eine grauhaarige Ökonomin aus Hamburg. Auch die beiden 20-jährigen Hannoveranerinnen, die in der Auftaktveranstaltung sitzen, wollen etwas lernen. "Für mich ist das eine Bildungsveranstaltung", sagt die eine. Und die andere: "Ich kenne so viele junge Leute, die resigniert haben." Die 81-jährige Ehefrau eines Attac-affinen Pastors aus Kassel sagt ebenfalls, dass sie mehr verstehen will. Dann erzählt sie, wie schwer es damals nach dem Krieg gewesen sei, den sie in Potsdam überlebt habe. Die jetzige Krise erinnere sie ständig daran.
Vom Einführungsvortrag werden sie nicht enttäuscht. Heiner Flassbeck, Chefvolkswirt der UN-Organisation für Handel und Entwicklung, stellt eine vermeintlich harmlose Frage: Welche Idee hatten die Banker, als sie 25 Prozent Rendite versprachen?, um dann fortzufahren: War es ein gute Idee? War es eine produktive Idee, auf das Steigen der Rohstoffpreise, der Weizenpreise zu setzen? Eine gute Idee, Hausbesitzer ohne Eigenkapital zu finanzieren? Wo doch bekannt ist, "dass niemand über seine Verhältnisse leben kann, ohne dass andere unter ihren Verhältnissen leben".
Flassbeck kritisiert vor allem die Politik, die das erlaubt hat. Und die nun gegensteuern muss, selbst Schulden machen muss, um die Deflation zu stoppen. Und die nun jene entlasten müsste, die bisher durch eine grandiose Umverteilung von unten nach oben unter dem Kasionkapitalismus gelitten haben: die Armen, die Hartz-IV-Empfänger, alle, die ausbeuterische Löhne für ihre Arbeit bekommen. Auch der Wirtschaftswettkampf der Nationen müsse gestoppt werden. Jetzt müsse auf nationaler Ebene globale Wirtschaftspolitik gemacht werden. Verstanden habe das die Bundesregierung bisher kaum. Alle anderen auf dem Podium sagen es ähnlich.
Neben den gefilterten Statements der WissenschaftlerInnen gibt es die ungefilterten der Leute, die zum Kongress gekommen sind. Sie spiegeln mehr Ratlosigkeit als Aufbruch wider: "Die Menschen sind sich der einzelnen Werte nicht mehr bewusst. Ich lebe in einem Selbstversorgerökodorf. Das ist nicht die Lösung gegen den Kapitalismus", sagt ein Grauhaariger, der seinen Jutebeutel gegen die Brust drückt. "Parteien sind ein Teil des Verrats", antwortet sein Gegenüber. "Ich bin kein Gewerkschafter mehr, wenn ich sage: Ja, lasst Opel den Bach runtergehen", mischt sich ein Dritter mit Nickelbrille ein. Und: "Ich habe immer gesagt, Geld kann nicht arbeiten", meint eine Freiburgerin.
Ein Post-68er, den die Bildungsmisere umtreibt, sagt: "Meinungen zur Finanzkrise sind viele da, aber die sind nicht untermauert." Er will den Kapitalismus abgeschafft sehen, aber in all den Jahren kam ihm selbst die Perspektive abhanden. Auch ihn hat es zum Kongress getrieben, weil er verstehen will.
Antworten holt er sich bei Paul Windolf, Soziologieprofessor aus Trier, und dem umtriebigen, Attac-nahen Ökonomieprofessor Jörg Huffschmid. Huffschmid ist eine Kassandra, die den Kollaps des Finanzsystems vorhersagte. Nur hat es Kassandras noch nie genutzt, recht zu haben. Huffschmid und Windolf erklären, was passiert ist: Weil es seit dem Zweiten Weltkrieg immer mehr Leute gab, die immer mehr Geld hatten, für das sie immer höhere Renditen haben wollten, konnte eine Finanzdienstleistungsklasse entstehen, die die Vermehrung dieser Vermögen versprach. Der Finanzsektor koppelte sich von der Realwirtschaft ab. Weil das Zuviel an Geld in der Realwirtschaft nicht mehr gebraucht wurde, entwickelte der Finanzdienstsektor eigene Produkte und verkaufte virtuelle Werte: steigende und fallende Kurse oder Risiken etwa.
Der Konkurrenzdruck unter den Finanzdienstleistungsanbietern wiederum wurde auf die Unternehmen übertragen, die den Aktionären gehörten, die immer höhere Renditen haben wollten. Das führte zu Rationalisierungsdruck und Lohndumping. Die Politik förderte das System durch Niedrigsteuerpolitik. Das Ergebnis: nicht nur eine Finanzkrise, sondern auch eine Wirtschaftskrise.
Wer in diesem Seminar war, kommt begeistert aus dem Saal. "Dafür hat es sich gelohnt", sagen drei Hamburgerinnen, die wie viele auf dem Kongress der Generation 50-Plus angehört. Jugendlicher Überschwang ist wirklich nicht zu spüren. Auch nicht in den Attac-Workshops, in denen man neue Aktive versucht zu werben. Solche zum Beispiel, die etwas gegen die Privatisierung öffentlicher Güter auf die Beine stellen wollen.
Auf den Stufen vor dem Audimax sitzt einer, der jung aussieht, aber auch schon 41 ist. Er ist bei den Grünen, will jedoch austreten, weil sie ihm zu konform sind. An den großen Aufbruch der Linken glaubt er nicht. "Ich plädiere für eine nüchterne Änderung der Verhältnisse", sagt er. "Auf das Wir-Gefühl kann ich verzichten." Er ist Jazzgitarrist und Komponist für klassische Musik. und arm. Dass am Anfang Jazziges über die Lautsprecher kam, was ihm aufgefallen war, hält er für Zufall.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich