Atomkatastrophe in Japan: Rätselraten an den Reaktoren

Regierung gibt eine Kernschmelze im AKW zu - wovon Experten seit Wochen ausgehen. Erneut ist verseuchtes Wasser ausgetreten, und für Lebensmittel gelten höhere Grenzwerte.

Jetzt war's doch eine Kernschmelze: Der Direktor der Atomaufsichtsbehörde NISA gibt am Montag seinen täglichen Bericht. Bild: dpa

"Three Mile Island, Tschernobyl, Fukushima - wer ist der nächste?", stand auf dem Plakat, das eine Schar von Atomgegnern am Montag früh um 3.53 Uhr Ortszeit in Harrisburg im US-Bundesstaat Pennsylvania entrollte. Denn dort war vor genau 32 Jahren Block 2 des Reaktors von "Three Mile Island" außer Kontrolle geraten. Beim ersten großen Unfall der zivilen Nutzung von Atomenergie gelangten damals große Mengen von Radioaktivität in die Umwelt. 140.000 Menschen flohen zeitweise.

So schlimm der Unfall in Harrisburg war: Für die Lage in Fukushima wäre eine solche Katastrophe inzwischen das bestmögliche Szenario. Denn in Harrisburg schmolz zwar der Reaktorkern, gelangte aber nicht in die Umwelt - was in Fukushima immer noch möglich ist. Am Montag stieg in den Trümmern des zerstörten japanischen AKW die Strahlenbelastung wieder zwischenzeitlich auf die lebensgefährliche Dosis von 1.000 Millisievert. Die Regierung erklärte, es könne "Monate, wenn nicht Jahre dauern", die durchgebrannten Reaktoren zu sichern.

Auf dem Gelände wurde am Montag zum ersten Mal stark verstrahltes Wasser außerhalb der Reaktorbehälter entdeckt. Und die Regierung bestätigte, es habe in Block 2 eine "partielle Kernschmelze" stattgefunden, die aber gestoppt sei. Eine Aussage, die die Experten erstaunt. Denn "Kernschmelze" heißt der Prozess, in dem Brennstäbe im Reaktordruckbehälter nicht mehr vom kühlenden Wasser bedeckt sind und beginnen, sich durch ihre eigene Hitze zu verformen. Das 1.000 bis 2.000 Grad Celsius heiße Gemisch aus Uranbrennstäben und Metall tropft nach unten auf den Boden des Druckbehälters. Diese "Kernschmelze" setzt ein, sobald die Brennstäbe freiliegen, sagt Wolfgang Renneberg, ehemaliger Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit beim Bundesumweltministerium. "Das ist wie beim Bleigießen: Wenn die Hitze unter dem Löffel nicht aufhört, ist die Suppe da." Und da die offiziellen Daten aus Japan seit Tagen zeigen, dass die Brennstäbe teilweise trocken liegen, "muss man davon ausgehen, dass es dort schon länger zur Kernschmelze kommt."

Oft wird unter "Kernschmelze" aber auch die größtmögliche Katastrophe am Reaktor verstanden: dass sich der glühende geschmolzene Reaktorkern, das "Corium", durch den Druckbehälter frisst und sich seinen Weg in die Umwelt bahnt. Das ist bisher nach allen Informationen in Fukushima (noch) nicht passiert - auch wenn die französische Atomaufsicht IRSN diesen Fall schon als realistische Variante debattiert. Klar ist allerdings, dass aus den Reaktorkernen ungefiltert und ungeplant starke Radioaktivität austritt - wie etwa in das Wasser, dass sich in den Kellern der Blöcke 1 bis 3 befindet. Dort versuchen die Hilfsmannschaften, das extrem hoch verstrahlte Wasser abzupumpen, um weiter an der Kühlung arbeiten zu können.

Was an und in den Reaktoren vorgeht, entzieht sich schon lange dem Einfluss der Rettungskräfte. Auch genaue Daten sind schwer zu bekommen: Temperaturmessungen außen am Druckbehälter geben Rätsel auf; andere Experten fürchten, dass der Nachweis des Elements "Technicium 99m" darauf hindeutet, dass im eigentlich abgeschalteten Reaktor eine unkontrollierte nukleare Kettenreaktion ("Re-Kritikalität") eingesetzt habe.

Auch zur Strahlenbelastung rund um das Kraftwerk gibt es wenige schlüssige Aussagen. Manche Werte liegen so hoch, dass statt der 20-Kilometer-Zone, die evakuiert wurde, eine doppelt so großer Radius angezeigt wäre, sagt Wolfgang Renneberg. Das verlangt auch die Umweltschutzorganisation Greenpeace, nachdem die US-Atombehörde NRC bereits vor mehr als einer Woche eine Zone von 80 Kilometern gefordert hatte.

Angesichts der Strahlenbelastung hat das Gesundheitsministerium die Anlagen zur Wasseraufbereitung angewiesen, kein Regenwasser mehr zu verwenden und Becken mit Plastikplanen abzudecken. Außerdem hat die Behörde für Lebensmittelsicherheit die Grenzwerte für strahlendes Essen neu festgesetzt. Nach der "Notice No. 0317", die bereits am 17. März erlassen wurde und der taz vorliegt, sind etwa 2.000 Becquerel Jod in Gemüse erlaubt und bis zu 500 Becquerel an radioaktivem Cäsium in Getreide, Fleisch und Eiern (in der letzten Woche wurde Spinat mit bis zu 54.000 Becquerel Jod gefunden). Die Regelung sieht auch Grenzwerte für Plutonium vor: 10 Becquerel bei Fleisch und Eiern. Ein solcher Wert, meinen Experten wie der Präsident der "Gesellschaft für Strahlenschutz", Sebastian Pflugbeil, sei ein Zugeständnis an die Verstrahlung im Notfall. Denn normalerweise gilt bei Plutonium Nulltoleranz, weil "bereits kleinste aufgenommene Mengen gesundheitliche Relevanz haben", wie es das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) formuliert. "Plutonium ist unabhängig von der Radioaktivität überdies ein sehr giftiges Schwermetall."

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