: Atomiker wittern den Aufschwung
■ Gestern ging in Nürnberg der Kirchentag der bundesdeutschen Atomgemeinde zu Ende, die „Jahrestagung Kerntechnik“. Nach jahrelangem Zittern, kein einziges Atomkraftwerk mehr bauen zu dürfen, wittern die Atomstromer jetzt wieder ihre Chance - im Osten. Aus Nürnberg Gerd Rosenkranz
Von Amory Lovins, dem amerikanischen Papst des sanften Energiepfads, ist die Atombranche neuerdings geradezu hingerissen. Der Mann, den sie jahrelang als weltfremden Träumer ansah, setzte kürzlich seine Unterschrift unter einen Wissenschaftlerappell an den US-Präsidenten, in dem neben zahlreichen anderen Maßnahmen gegen die drohende Klimakatastrophe auch - unter scharfen Voraussetzungen Atomkraftwerke als hilfreich angesehen werden. Seither betrachten ihn die Atomiker als einen der ihren - zumindest wenn es darum geht, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, daß die „Ausstiegsdiskussion von den Realitäten überholt“ ist. So formulierte es jedenfalls der Präsident des „Deutschen Atomforums“, Claus Berke, bei der traditionellen „Jahrestagung Kerntechnik“ in Nürnberg.
Hingerissen ist die Zunft aber auch von den „Veränderungen der Erdatmosphäre“ selbst. Walter Weinländer, der als DWK -Chef vor Jahresfrist nach der Flucht der Stromunternehmen aus Wackersdorf noch als wandelnder Frustbeutel vor die Presse trat, blickt „heute sehr viel optimistischer in die Zukunft“, weil die Klimadiskussion einen „unumkehrbaren Prozeß der Neubewertung der Kernenergie“ auslösen werde. In der BRD allerdings läßt der Prozeß auf sich warten. Um so mehr müht man sich: Kaum ein Plenumsreferat ohne Rückgriff auf das Klimaproblem und die „ethisch notwendige“ Ausweitung der Atomnutzung.
Der andere Anlaß für den Optimismus der Atombranche blieb während der gesamten Tagung merkwürdig im Hintergrund: die deutsch-deutsche Vereinigung. Zwar denkt auf den Fluren alles an den Sprung nach vorn - den Verkauf von Stromüberkapazitäten in die DDR, die Ausweitung der Konzessionsgebiete der Elektrounternehmen, den Bau neuer Blöcke und natürlich die milliardenschwere Ausbesserung der maroden Reaktoren in Greifswald. Aber man weiß: Offener Atomkolonialismus kommt weder in der BRD noch in der DDR gut an. Also gibt man sich moderat.
Ungewohnte Unwägbarkeiten mögen die Töne zusätzlich gedämpft haben. Da ist zum Beispiel Professor Günter Flach, (noch) Chef des DDR-Zentralinstituts für Kernenergie in Rossendorf und vor wenigen Wochen Mitbegründer des DDR -Gegenstücks zur bundesdeutschen Kerntechnischen Gesellschaft (KTG): Flach wurde prompt erster Vorsitzender des KTG-Ablegers und dankte in der Meistersingerhalle brav für „vielschichtige Hilfe“ aus dem Westen. Ein ganz anderes Lied sang unmittelbar nach Flachs Dankesworten Thomas Goppel, Staatssekretär im bayerischen Wissenschaftsministerium, und steuerte damit die Tagung schon in der Eröffnungssitzung knapp am Eklat vorbei. Goppel wurde unvermittelt laut, bekundete seine „tiefe Wut“ über „kommunistische Agitatoren“, die jahrelang im freien Westen unterwegs gewesen seien, die Fahne des Kommunismus hochgehalten und gleichzeitig jeden Fortschritt in der DDR abgeblockt hätten. Die zahlreich vertretenen Westreisenden aus der DDR antworteten mit frenetischem Beifall. Sie bezogen den Ausbruch Goppels auf Professor Flach. Und lagen damit offenbar richtig. Denn Flach steht unter Verdacht, der Stasi bis zur Wende hilfreich zu Diensten gewesen zu sein. Gerüchte kursieren, von Verdienstorden ist die Rede und von Spionagetätigkeit im Dienst des alten Regimes. Bei der anschließenden Pressekonferenz plazierten die Veranstalter den Vorsitzenden der Schwestergesellschaft nicht mehr in der ersten Reihe. Der verabschiedete sich anschließend hektisch nach Budapest.
Von Unwägbarkeiten ganz anderer Art hatte G. Ackermann von der Technischen Hochschule Zittau zu berichten. Als er die Westkollegen über die „Sicherheitssysteme“ der DDR -Atomkraftwerke unterrichtete, sackte so manchem Westler das Herz in die Hose. Schließlich weiß man, daß mindestens ein Teil der Greifswalder Blöcke nach gewissen Rekonstruktionsmaßnahmen des Auftragnehmers Siemens/KWU weiterlaufen soll - wenn der Bonner Reaktorminister ja sagt.
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