: Asyl ist immer „eine Frage der Generosität“
■ Als 1949 der Artikel 16 GG konzipiert wurde, war von Massenexodus keine Rede
Zwischen den Debatten im Parlamentarischen Rat 1948/49 und der heute geführten Diskussion zur Frage des Asylrechts liegen Welten. Während uns politische Verfolgung als Massenschicksal ebenso geläufig ist wie das Phänomen der Sozialflüchtlinge, war die Diskussion der Verfassungsväter (und wenigen -mütter) eher noch vom Einzelschicksal politisch Verbannter und verschworener Attentäter des 19. Jahrhunderts geprägt.
Der Herrenchiemsee-Konvent, ein Sachverständigenausschuß der Länderregierungen, in dem das Grundgesetz weichenstellend vorberaten worden war, hatte das Asylrecht als bloßes Auslieferungsverbot an den Verfolgerstaat konzipiert: „Wer unter Nichtbeachtung der in dieser Verfassung niedergelegten Grundrechte von einer Stelle außerhalb des Bundes verfolgt wird, wird nicht ausgeliefert“, lautete die von der herkömmlichen Formulierung stark abweichende Bestimmung über das Asylrecht.
Schon sehr früh erhielt indes der betreffende Artikel vom Grundsatzausschuß des Parlamentarischen Rates eine weitergehende Fassung: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht im Rahmen des allgemeinen Völkerrechts“. Der Hinweis auf das Völkerrecht wurde alsbald gestrichen, weil über die innerstaatliche Geltung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts eine grundgesetzliche Sonderbestimmung vorgesehen war (vgl. Art. 25 GG), in dem diese Regeln zum Bestandteil des Bundesrechts erklärt werden).
Manchen erschien die Verfassungsgarantie für politisch verfolgte Ausländer als zu weitgehend, da sie möglicherweise die Verpflichtung zur Aufnahme, Versorgung usw. in sich schließe und eine Abschiebung generell verbiete. Mehrere auf den Allgemeinen Redaktionsausschuß des Parlamentarischen Rates zurückgehende Anträge, das Grundrecht für politisch verfolgte Ausländer deshalb auf besagtes Auslieferungsverbot zu beschränken, fanden allerdings keine Mehrheit.
Allen Ernstes gab es den Vorschlag, das Asylrecht politisch verfolgten Deutschen aus der Sowjetzone vorzubehalten: „Jeder Deutsche ... genießt im Bundesgebiet Asylrecht“ – wäre dieser Änderungsantrag, für den sich der Abgeordnete von Brentano (CDU) stark machte, Verfassungsgesetz geworden, gäbe es seit dem 3. Oktober 1990 kein „Asylproblem“ mehr.
Ebenfalls abgelehnt wurden unterschiedlich motivierte Versuche, das Asyl zum exklusiven Recht bestimmter politischer Richtungen zu verkürzen. So wollte der als Berater tätige Verfassungsexperte Richard Thoma, ein aus der Wimarer Zeit bekannter demokratischer Staatsrechtslehrer, das Asyl jenen verwehren, „welche wegen kommunistischer oder faschistischer Wühlereien gegen eine befreundete Demokratie verfolgt werden“. Seine Lesart des Asylrechts sollte ausschließlich jene schützen, die „wegen ihres Eintretens für Freiheit, Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Weltfrieden politisch verfolgt werden“.
Das Pendant zu Thomas antitotalitaristischer Exklusivität stellte ein Abänderungsvorschlag der KPD dar, wonach politisch Verfolgte nur dann Asylrecht genießen sollten, wenn sie „wegen antifaschistischer oder antimilitaristischer Betätigung“ zu Flüchtlingen würden. Auch dieser Vorstoß fand im Parlamentarischen Rat keine Mehrheit.
Dem Einwand des Abgeordneten Fecht (CDU), ein weit gefaßtes Asylrecht verpflichte zum Beispiel dazu, politisch verfolgte italienische Faschisten in unbegrenzter Anzahl aufzunehmen, entgegnete der Abgeordnete Schmid (SPD): Die Asylgewährung sei „immer eine Frage der Generosität“.
Hermann von Mangold (CDU), warnte vor den parteipolitisch eingefärbten Versuchen, das Asylrecht von einer bestimmten politischen Gesinnung abhängig zu machen: Es sei dann erst eine Prüfung notwendig, ob die verfassungsmäßigen Voraussetzungen des Asylrechts vorliegen oder nicht; diese Prüfung liege in den Händen der Grenzpolizei, und damit würde das Asylrecht vollkommen unwirksam. Das Asylrecht sei nur haltbar, wenn man die bisherige schlichte Fassung des Grundsatzausschusses beibehalte.
Wie die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes zeigt, sollte das Asylrecht also unverkürzt allen politisch Verfolgten garantiert werden. So bleib es bei jener schon zu Beginn der Beratungen ins Auge gefaßten Formulierung „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“. Es waren vor allem die Abgeordneten aus der Arbeiterbewegung und ihre teils persönlichen Erfahrungen mit Verfolgung und Exil, die Grund legten für eine in der deutschen Verfassungsgeschichte beispiellose Asylgarantie. Diese setzte auch international Maßstäbe, da sie als subjektives Recht jedes einzelnen Verfolgten ausgestaltet war und nicht, wie bis dahin üblich, als bloße Gewährleistung, die der Staat wie ein Gnadenrecht nach Gesichtspunkten politischer Zweckmäßigkeit zuteilen oder entziehen kann.
Eine einzige, weitgehend unbekannte verfassungsmittelbare Schranke hat das Asyrecht gleichwohl schon immer gehabt: Nach Art. 18 GG verwirkt (neben einer ganzen Reihe anderer Grundrechte) derjenige das Asylrecht, der dieses „zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht“. Es ist klar, daß diese Einschränkung in Zeiten allerorts vermuteter „Wirtschaftsasylanten“ keinen politischen Gebrauchtswert hat.
Andererseits ist offensichtlich, daß dem Verfassungsgeber des Jahres 1949 das Problem des Massenexodus nicht gegenwärtig war. Das ist umso erstaunlicher, als die Judenverfolgung des NS-Staates dafür gerade ein unglaubliches Exempel statuiert hatte: Die „Exilierten neuer Prägung entflohen der drohenden Bestrafung für was sie waren, nicht für was sie getan hatten“ (Kirchheimer). Noch weniger lagen Schlagwörter wie „Scheinasylant“ oder „Wirtschaftsflüchtling“ im Vorstellungshorizont jener, die einem weitgeehnd zerstörten und wirtschaftlich darniederliegenden Westdeutschland eine provisorische Verfassung geben sollten.
Heute dagegen ist der Druck auf das Asylrecht eine nicht zu leugnende politische Herausforderung. Mit dem populistischen Schlingerkurs der sich abzeichnenden großen Asylverkürzungskoalition, mit ihrem hektischen Aktionismus ist die Völkerwanderung unserer Tage freilich nicht zu stoppen. Sie ist bestenfalls auf zivile Weise zu kanalisieren – nicht durch symbolische Verfassungsgesetzgebungen, sondern durch klugen Pragmatismus.Horst Meier
Jurist & Autor, lebt in Hamburg
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