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Assemblee Nationale im kalten Zirkuszelt

■ Vollversammlung der französischen Studentenvertreter am Wochenende in Paris / Gibt es noch die „Einheit“ des Dezemberstreiks oder dominieren politische Fraktionierungen? / Politische Kleinarbeit ist für viele neues Terrain

Aus Paris Georg Blume

Sie wollten ihre Revolte wieder ins unmittelbare Gedächtnis rücken und zum neuen Angriff blasen. Sie wollten die „historische“ Pflicht erfüllen, die ihnen die letzte Entscheidung der „Nationalen Koordination“ der Dezember–Bewegung auferlegte. Schon damals hatte man die Vollversammlung aller Studenten für das Frühjahr angekündigt, um die neue Universität zu definieren. An diesem Wochenende war es soweit. Keine Sorbonne, keine große Pariser Uni stand den Studenten mehr zur Verfügung. Sie mußten in die Vorstadt flüchten, nach Saint–Denis, dort, wo das kommunistische Rathaus bereit war, Subventionen zu erteilen. Kein Saal war aber groß genug, die 1.500 Delegierten aus dem ganzen Land aufzunehmen. Also mußte ein Zirkuszelt fürs Plenum her. Zu allem Unbill blieb das Zelt auch noch unbeheizt. Kein Wunder also, daß die republikanische Aura der Ereignisse vom Dezember in dieser Kälte keinen Widerhall finden konnte. Ovationen für die Organisierten Doch erst einmal wollte man ge meinsam arbeiten. 20 Kommissionen hatte man am Sonnabend eingesetzt, die Themen waren breit gefächert. Die Studenten diskutierten über Diplome und Uni– Budgets, die Fortsetzung der Aktionen und die Studentenverbände oder über Rassismus und Demokratie. Der Ton der Gespräche hat sich allerdings geändert. „Heute ist das Tabu vom Dezember, über Politik zu sprechen, überholt“, erklärt Sophie aus Toulouse. „Ich weiß nicht, ob wir es schaffen werden, eine neue Form von Politik zu definieren. Die Leute, die sich jetzt engagieren, sind meistens genau die, die schon immer politisch aktiv waren.“ Sophies Skepsis scheint berechtigt. In der Rassismus–Kommission erhitzen sich die Geister an einer Formulierung, die die Politik von rechten und“ linken Parteien für die Ausländerfeindlichkeit im Land verantwortlich erklärt. „Laßt uns unsere Kräfte auf den Kampf gegen die Rechten konzentrieren, dann streiten wir uns nicht“, fordert ein Mitglied der UNEF–ID, dem Studentenverband, der den Sozialisten nahesteht. Und ausnahmsweise ist die Anhängerin der kommunistischen UNEF–SE einverstanden. Doch in den anderen Kommissionen, und vor allem später im Plenum beherrschen die Machtkämpfe zwischen UNEF–ID und UNEF–SE das Geschehen. Soll es bald eine einzige „große UNEF“ geben? Die UNEF–ID–Leute sind dafür, sind sie doch in der Mehrzahl und wollen dominieren, wogegen sich die Kommunisten aber wehren. Da bleiben die Zwischenrufe der Nichtorganisierten, denen die UNEFs egal sind, und die Aktionen wollen, oftmals ungehört. Im Zirkuszelt kommt es bei den Reden der beiden UNEF– Vorsitzenden zu einer wahren Ovationsschlacht. Und erstmals sind die „UNEF“–Rufe im Zirkuszelt lauter als das Schlagwort vom Dezember: „Einheit“. Resolution für die neue Universität UNEF–ID–Chef Dariulat fordert mit starker Stimme, daß Frankreich nicht das letzte Indu strieland bleiben dürfe, dessen Univeritätshaushalt unter einem Prozent des Bruttosozialprodukts liegt. Sophie: „Das klingt sehr gaullistisch.“ Sie macht sich Sor gen: „Es gibt so viele Sachen, über die wir nicht richtig reden können, über Pädagogik zum Beispiel, über die Macht der Profs im Hörsaal.“ Als dann ein Student Dariulat bittet, die Apparatschickparolen zu unterlassen, klatscht auch Sophie. Zu einer Einigung der beiden UNEFs ist es in Saint–Denis noch nicht gekommen. Stattdessen arbeitete man noch am Sonntag nachmittag an einer Resolution zur französischen Universität. Darin wird die Verdoppelung der Zahl der Studenten auf zwei Millionen gefordern, eine größere Selbstverwaltung an den Universitäten und vor allem mehr Demokratie in den Entscheidungsstrukturen. Nicht zu vergessen auch die Ausrüstung der Hochschulen mit Computern, die jedem Studenten zugänglich sein sollen. „Da ist ja überhaupt nicht klar, wo die anfangen wollen, bei der Demokratie oder den Computern“, entrüstete sich ein bundesdeutscher Student aus Frankfurt. „Der Streik ist vorbei. Es bleiben die Apparate, und deshalb gibt es halt mehr Probleme“, antwortet der ebenfalls wenig computerbegeisterte Daniel Cabrieu, einer der Führer vom Dezember. Selbst um 3 Uhr Sonntag morgens - nach neuer Zeit wohlgemerkt - gibt Daniel nicht auf. Der Trotzkist weiß genau, daß auch wenn im Dezember alles plötzlich neu erschien, nicht alles neu geworden ist. In Saint–Denis jedenfalls haben die französischen Studenten vorerst den mühsamen Weg der politischen Kleinarbeit eingeschlagen. Und der ist für viele absolutes Neuland.

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