Arzneimittel Cytotec: Vorsicht oder Überreaktion?
Das Bundesinstitut für Arzneimittel will den Vertrieb des Medikaments Cytotec stoppen. Verbände halten dagegen: Es helfe Frauen bei Abbrüchen.
In einem offenen Brief an Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und das Bundesinstitut schreiben die Gesellschaften, es sei für „Deutschland nicht tragbar“, den Zugang zu einem „essentiellen“ Standardmedikament in der Gynäkologie und Geburtshilfe zu erschweren.
Cytotec mit dem Wirkstoff Misoprostol war in Deutschland bis 2006 zur Behandlung von Magenschleimhautentzündung zugelassen. Danach wurde es aber weiter importiert und auch außerhalb der abgelaufenen Zulassung im sogenannten Off-Label-Use vor allem in der Gynäkologie und Geburtshilfe eingesetzt. Vergangenes Jahr war das Medikament in die Schlagzeilen geraten, weil sich Meldungen über schwere Nebenwirkungen bei der Geburtseinleitung gehäuft hatten.
„Wehenstürme“ durch Cytotec
BuzzFeedNews und der Bayerische Rundfunk hatten über Fälle berichtet, in denen Frauen nach der Einnahme von Cytotec sogenannte Wehenstürme erlitten hatten. In einzelnen Fällen kamen Kinder unter Sauerstoffmangel zur Welt, was mit Cytotec zusammenhängen könnte. Nach Gesprächen mit dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hatten die drei Pharmakonzerne, die Cytotec importieren, Anfang des Monats mitgeteilt, das Medikament in Deutschland nicht mehr zu verkaufen.
16 Fachgesellschaften, darunter die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), die Deutsche Gesellschaft für Familienplanung und Sexualpädagogik Pro Familia, der Berufsverband der Frauenärzte, der Deutsche Hebammenverband, Doctors for Choice und der Arbeitskreis Frauengesundheit warnen nun vor Versorgungslücken sowohl in der klinischen Geburtsthilfe als auch bei niedergelassenen Frauenärzt:innen.
Denn jenseits der Geburtseinleitung wird das Medikament, das zu Kontraktionen der Gebärmutter führt und dazu, dass das Gewebe weicher wird, unter anderem beim Einsetzen der Spirale verwendet, bei postpartalen Blutungen, bei Fehlgeburten sowie bei medikamentösen Schwangerschaftsabbrüchen, bei denen es internationale Leitlinien für die empfohlene Dosierung gibt. Eine generelle „Erschwerung des Zugangs zu Cytotec“, so die Gesellschaften, sei deshalb die „falsche Konsequenz“.
Medikamentöse Schwangerschaftsabbrüche
Die Möglichkeit, sich für den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden, gebe es nur, wenn der in Cytotec enthaltene Wirkstoff Misoprostol zur Verfügung stehe, heißt es in dem Brief. Rund 30.000 Frauen wählen diese Methode hierzulande jährlich, sie ist deutlich schonender als der operative Eingriff. Alternativ zu Cytotec seien nur zwei Präparate auf dem Markt, die aber „keine ausreichende Alternative“ böten.
Eine formale Zulassung von Cytotec für den deutschen Markt werde der Hersteller vermutlich nicht beantragen. Er habe auch gar keinen Anreiz, so die Fachgesellschaften: Das sei teuer und das Medikament werde ja bereits weltweit benutzt.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO setzte den Wirkstoff Misoprostol schon vor Jahren auf die Liste der effektivsten und sichersten Medikamente, die die wichtigsten Bedürfnisse innerhalb eines Gesundheitssystems bedienen können. Frauenärzt:innen zufolge war das Medikament in der Geburtseinleitung zum Teil offenbar zu hoch dosiert worden.
Auch Aspirin kann zu hoch dosiert werden
Allerdings könne man jedes Medikament falsch dosieren, sagte der Gynäkologe Ulrich Pape der taz, auch Aspirin. Der faktische Importstop, so Pape, sei eine „Überreaktion und ein Skandal“. Sollte Cytotec in Deutschland künftig nicht mehr bezogen werden können, sei das für den medikamentösen Schwangerschaftsabbruch ein „Riesenrückschritt“.
Eine Sprecherin des BfArM bestätigte der taz, dass das Institut vor dem Hintergrund „unsachgemäßer Anwendung“ und möglichem schwerwiegenden Risiko bei der Geburtsteinleitung „eines dafür nicht zugelassenen Arzneimittels“ auf einen schnellen Vertriebsstop dieses Mittels hingewirkt habe. Das Institut, so die Sprecherin, bevorzuge „eindeutig den Einsatz von zugelassenen Arzneimitteln gemäß ihrer jeweiligen Zulassungsbedingungen“, also den sogenannten In-Label-Use. Nach den Gesprächen mit den Importeuren sei beabsichtigt, „nur noch bereits georderte oder freigegebene Ware“ in den Verkehr zu bringen.
„Es ist richtig, dass die Anwendung von Cytotec in der Geburtshilfe einer kritischen Überprüfung unterzogen wird“, sagte die frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion und stellvertretende Fraktionschefin, Cornelia Möhring. Verschiedene Stellungnahmen aber betonten, dass Komplikationen unter der Geburt vor allem durch falsche Anwendung entstünden.
Positive Erfahrungen bei Abbrüchen
Im Bereich des medikamentösen Schwangerschaftsabbruchs hingegen gebe es überwiegend positive Erfahrungen. Sie erwarte von Gesundheitsminister Jens Spahn, so Möhring, dass er sich um ein „differenziertes Bild“ bemühe und entsprechende Schritte einleite. „Abbrüche müssen weiterhin auch medikamentös möglich sein.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs