Armut: Erstklässler zweiter Klasse
Vierzig Prozent der 25.000 neuen SchülerInnen leben von Hartz IV. Ihre Eltern können sich Zuckertüte und Ranzen kaum leisten.
Schulranzen samt Federmäppchen und Heften sind für immer mehr Familien eine kaum zu schulternde Bürde - finanziell gesehen. 25.000 Kinder werden an diesem Wochenende eingeschult, 40 Prozent von ihnen kommen aus einem Hartz-IV-Haushalt. Doch die mit der Einschulung verbundenen Kosten sind im Sozialgesetzbuch als Sonderausgaben nicht vorgesehen - alles, was ErstklässlerInnen brauchen, muss vom Regelsatz bezahlt werden. Ein Riesenproblem, sagt Sabine Walther vom Kinderschutzbund: "Gerade am Beispiel der Einschulung sieht man, dass Kinder die Hauptverlierer von Hartz-IV sind." Sie könnten von Anfang an nicht mithalten.
208 Euro Sozialgeld sind für Minderjährige monatlich vorgesehen, nur 28 Euro mehr, als eine durchschnittliche Einschulung nach Berechnungen von Wohlfahrtsverbänden kostet. In Berlin ist jedes dritte Kind von Armut betroffen, in manchen Bezirken sind es sogar drei Viertel der Schulanfänger. Im Bezirk Mitte etwa stehen nahezu 70 Prozent der unter Sechsjährigen auf der Liste der Jobcenter, in Neukölln sind es sogar 79 Prozent. Selbst in Steglitz-Zehlendorf lebt fast jedes vierte Kind von ALG II.
"Das wirkt sich auch auf die Sachen der Kinder aus. Oft werden sie möglichst billig gekauft oder unter Geschwistern weitergegeben", berichtet Marion Drögsler vom Berliner Arbeitslosenverband. Hatice S., die mit ihren drei Kindern von Hartz IV lebt, überlegte lange, ob sie für ihre jüngste Tochter einen neuen Ranzen kaufen soll. Schließlich entschied sie sich dafür: "Ich fand, dass die Kleinste für die Einschulung einen eigenen, neuen Tornister haben soll."
Um Kindern zu ersparen, an ihrem ersten Schultag mit einem Secondhandranzen zu erscheinen, fordern Arbeitslosenverbände und Gewerkschaften das Land auf, den Bezirken Geld zur Verfügung zu stellen, damit diese einen Schulfonds für mittellose Kinder einrichten können. Auch die Linke und die Grünen wollen die Eltern von den Bildungsausgaben entlasten. Die jugendpolitische Sprecherin der Linken, Margrit Barth, schlägt vor, allen Schulanfängern zunächst einen Gutschein von 50 Euro zu geben. Das würde ein halbe Million Euro kosten. Gleichzeitig will ihre Partei die Kosten für das Schulessen auf einheitlich 23 Euro pro Monat drücken und Unterrichtsfonds für Lehrmittel einrichten. "Das steht bei uns ganz oben auf der Agenda", sagte Barth anlässlich der heute beginnenden Haushaltsverhandlungen. Alle Vorschläge zur Linderung von Kinderarmut kosten zusätzlich 100 Millionen Euro. Deswegen bejaht die SPD die Ideen nur unter Vorbehalt. Man müsse sehen, wo das Geld herkommen soll, sagte ihre jugendpolitische Sprecherin Felicitas Tesch.
"Einfach zu sagen, dafür ist kein Geld da, ist zu wenig - andere Städte schaffen es ja auch", so DGB-Sprecher Dieter Piekny. Kommunen wie München oder Oldenburg haben Schulfonds eingerichtet, aus denen Hartz-IV-Empfängern für den Schulanfang bis zu 100 Euro erstattet werden. In Berlin können sich Hartz-IV-Empfänger die Kosten für Schulbücher erstatten lassen. Mehr aber nicht. An vielen Schulen übernehmen Elternvereine einen Teil der Mehrkosten.
Vertreter von Erwerbsloseninitiativen fordern dagegen vom Bund, den ALG-II-Satz für Schulkinder generell aufzustocken. Ein Schuljahr koste durchschnittlich 50, in der Oberstufe deutlich über 100 Euro, sagte Martin Künkler von der Koordinierungsstelle der Arbeitslosengruppen. "Diese Kosten sollten generell erstattet werden."
Hatice S. hat in diesem Jahr 200 Euro für alle drei Kinder zum Schulanfang ausgegeben. Nötig wären außerdem neue Sportsachen für die Kinder, da sie aus den alten, vor allem den Schuhen, rausgewachsen sind. Das kann sich Hatice S. im Moment aber erst mal nicht leisten. Schließlich muss sie langsam über die Anschaffung neuer Wintersachen nachdenken.
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