: „Armut ist das Resultat von Herrschaft“
Der Sozialwissenschaftler und Jesuitenpater Ignacio Ellacuria ist Rektor der Zentralamerikanischen Universität in San Salvador, der einzigen Universität Amerikas, die einen Lehrstuhl für Menschenrechtsfragen hat ■ I N T E R V I E W
taz: Padre, an Ihrer Universität gibt es ein Institut für Menschenrechte und einen Lehrstuhl für Menschenrechte. Sie selbst lehren in diesem Fach.
Ignacio Ellacuria: Ich bin eher in der Forschung tätig. Wir arbeiten auf drei Ebenen. Erstens, theoretische Forschung über Menschenrechte. Da geht es um Fragen wie etwa: Worauf gründen sich die Menschenrechte? In welchem Verhältnis stehen sie zum Begriff der Demokratie? Es geht hierbei um eine neue Herangehensweise, die über die liberale Konzeption hinausgeht, es geht um die theoretischen Fundamente eines Begriffs von Menschenrechten, der auch gesellschaftliche Faktoren miteinbezieht und der der Wirklichkeit näherkommt. Die Theologie der Befreiung bietet dabei gewisse Leitlinien. Auf der zweiten Ebene geht es um die Erforschung der Lage der Menschenrechte in El Salvador. Dabei kommen wir auch auf die mangelnde Befriedigung grundsätzlicher Bedürfnisse zu sprechen.
Vor 20 Jahren konnte man sich kaum vorstellen, daß den Menschenrechten in der politischen Debatte einmal dieses Gewicht zukommen würde, das sie heute haben.
Vor 20 Jahren haben wir zwar noch nicht so oft von Menschenrechten geredet, aber sehr klar von der Ungerechtigkeit, von der strukturellen Ungerechtigkeit, von der sozialen Sünde. Die Theologie der Befreiung hat die Untrennbarkeit von Gerechtigkeit und Glaube hervorgehoben. Wir begannen, die Armut und das Elend nicht als Resultat von Unterentwicklung, sondern als Resultat von Herrschaft und Unterdrückung zu begreifen. Wir interpretierten das also in der Terminologie der Theologie der Befreiung und der Dependenztheorien. Der Formel „Menschenrechte“ hat hier in Mittelamerika dann US-Präsident Carter zum Durchbruch verholfen. Die Linke neigte damals dazu, Carters Predigt von den Menschenrechten als einen geschickten Schachzug des Imperialismus zu begreifen. Wir hingegen hatten keine dogmatischen Vorurteile und sahen die Brisanz der Menschenrechtsfrage eher. Aber die Revolutionäre und die Linke haben dann bald begriffen, daß es um die Rechte breiter Volksmassen ging. Reagan wollte ja das ganze Problem der Menschenrechte weg haben. Aber da war es schon zu spät.
Die bundesdeutsche Christdemokratie hat die Menschenrechtsverletzungen in Chile ungefähr vor zwei Jahren entdeckt. Die USA, die in Mittelamerika jahrzehntelang skrupellos Diktaturen unterstützt haben, entdeckten Anfang der 80er Jahre plötzlich die Menschenrechtsverletzungen - in Nicaragua. Noch nie ist die Menschenrechtsfrage so bedenkenlos politisch instrumentalisiert worden.
Um eine - wie sie sagen - liberale Demokratie einzusetzen, das müßte dann ja ein Rechtsstaat sein, attackieren die USA ein Land wie Nicaragua, verletzen das Recht, auch internationales Recht, mißachten das Urteil des Internationalen Gerichtshofes von La Haye. In Europa neigt man oft zu einer mechanischen Betrachtungsweise. Zwar hat El Salvador der Form nach eine demokratischere Struktur als Nicaragua. Doch daraus kann man noch nicht schließen, daß El Salvador demokratischer als Nicaragua ist. Um dieser Täuschung zu entgehen, muß man das Problem von den Menschenrechten her angehen. Dann muß man sehen, welches sind die fundamentalen Menschenrechte, welches die dringenden, und welche sind nachrangig.
Wenn das Menschenrecht auf Leben - im Sinn des biologischen Überlebens - nicht garantiert ist, verlieren die anderen Menschenrechte an Bedeutung. Ein anderes Beispiel: Die Demokratie besteht grundsätzlich auf politischen Rechten und kann andere Rechte vernachlässigen; ohne diese aber kann die übergroße Mehrheit des Volkes die politischen Rechte gar nicht wahrnehmen. In der Französischen Revolution forderte die Bourgeoisie nur ein, was ihr verweigert wurde. Der Bourgeoisie war die Möglichkeit, sich gut zu ernähren, nicht verwehrt, und so tauchte das als Problem bei der Formulierung von Menschenrechten damals nicht auf.
Interview: Thomas Schmid
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