Armut in Kuba: Tage, die schwerfallen
Isora Gómez hat Glück: Als einzige von allen Müllsammlern in La Picadora hat sie schon einmal Sandalen in ihrer Größe gefunden.
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Noch nie hat sie sich so an einem Gegenstand verloren wie jetzt. Isora Gómez weiß, dass das ein Mobiltelefon ist, sie hat schon mal welche gesehen. Sie hat auch schon Vorhängeschlösser gesehen, Kämme, Nadeln, Dosen, Kleiderbügel, Tassen, Kabel, Seile. Aber trotzdem löst dieser Gegenstand bei ihr keine Erinnerungen aus, oder eine Erinnerung von vor der Zeit: Nichts.
Isora Gómez steht vor dem Berg mit neuem Müll. Ihr Körper von 62 sieht aus wie nach 80 Jahren der Erschöpfung. Sie rührt mit einem Stock im Müll, bis sie etwas sieht, was ihr gefällt. Sie ist eine Frau mit viel Glück. Von allen, die im Müll herumstochern, ist sie die einzige, die schon einmal fast neue Sandalen in ihrer Größe gefunden hat. Einmal hat sie eine Uhr gefunden, einmal eine Puppe in Form einer Ente. Auf der Müllhalde zu leben heißt auch, in fremder Intimität zu leben.
Die ausgefranste Tasche beherbergt Vulgaritäten: Jene, von denen wir uns nicht trennen können, die sich parasitär an unser Leben heften, die erzählen, wer wir sind. Isora hat die Tasche vor Jahren gefunden. Mit ihr in der Hand ging sie zur Aids-Krankenstation, bevor einer ihrer acht Söhne starb. Mit ihr in der Hand ging sie durch die Gänge des Provinzgefängnisses, um ihren jüngsten zu besuchen. In der Tasche sind die Sandalen, ein Topf, ein Bic-Feuerzeug. Das Mobiltelefon hingegen hält sie in der Hand, wie einen Fremdkörper aus einer fernen Zivilisation.
Dieser Text erschien in gekürzter Fassung am 15. Juli 2016 in der Sonderbeilage (
) zum zweiten taz Panter Workshop mit kubanischen Journalisten.Este articulo se publicó en una versión cortada el día 15 de Julio 2016 como parte de un suplemento especial (
) en occasión del segundo taller de la fundación taz Panter con periodistas cubanos.Vor zehn Jahren verlegten die Behörden von Caibarién im Zentrum Kubas die Gemeindemüllhalde aus dem Dorf La Picadora in ein unbewohntes Gebiet. Aber es war schon zur Gewohnheit geworden, dort Sachen wegzuwerfen, und bis heute tauchen dort Büromaterialien auf, medizinische oder organische Abfälle.
Wie Isora haben dort rund 15 andere Famlien ihre Hütten gebaut. Keine Stadtverwaltung kann über diese kleine Gemeinschaft von Parias präzise Auskünfte geben. Keiner weiß mehr, ob die Müllhalde oder die Bewohner zuerst da waren, aber es ist auch egal, beides ist Jauche unter dem Teppich, die hässliche Postkarte, die niemand ansehen will.
Lianet Fleites, 26, lebt in Villa Clara und arbeitet dort beim lokalen staatlichen Rundfunksender Radio Caibarién.
Lianet Fleites, de 26 años, vive en Villa Clara dónde trabaja con la estación local de la radio estatal Radio Caibarién.
Wie ein schmutziger Vogel stellt sich Isora an die Ecke des Tores. Sie lehnt sich an die Bretterwand und zündet sich eine Zigarette an. Als ihr aidskranker Sohn starb, nahm sie sich vor, niemals mit dem Rauchen aufzuhören, und jetzt krümmt sie sich bei jedem Hustenanfall unter einem ekelhaften Röcheln.
In ihrer vier-mal-vier-Meter-Hütte, die sie ihr Haus nennt, wohnt sie mit ihrer Tochter María Luisa und ihrem 14jährigen Enkel. Manchmal gibt es kein Wasser, sagt sie, manchmal wäscht sie sich tagelang nicht, um das bisschen Wasser zu nutzen, um den Kindern etwas zu essen zu kochen.
Das Wasser kommt nicht hoch bis La Picadora. Alle drei Tage kommt ein Tankwagen zur Siedlung. Aber es reicht nicht. Es verschafft nicht einmal Erleichterung. Seit Dezember 2015 versuchen die Wasserwerke von Caibarién, die Schäden an den Wasserleitungen zu reparieren.
Eine bürokratische Endlosschleife
Aber die Arbeiten hängen nicht nur von den Wasserwerken ab, sondern auch von Ressourcen, Ausrüstung, Arbeitskraft, von der Finanzierung und deren Genehmigung durch dritte, vierte und fünfte Instanzen. Sich waschen zu können oder zu kochen hängt an einer bürokratischen Endlosschleife.
Isora hat diese gegerbte Haut, die wie Leder aussieht. Ihre Silhouette hat nichts menschliches, eher etwas von einem Fabelwesen. Ihr Rücken ist kein Rücken, sondern ein Buckel. Vielleicht, um die Schmerzen aushalten zu können, die Tage, die schwerfallen.
Isora sammelt Verluste. Am 31. Oktober 2014 verlor sie eine elf Monate alte Urenkelin. Sie hat sie dort begraben, gleich neben ihrem aidskranken Sohn, am Fuße der Müllhalde, da, wo der Friedhof ist.
Der Tod ihrer Lieben ließ sich für sie nie mit der Allegorie der vollendeten Reise beschreiben. Es reichte, lieber wegzuschauen. Für die Armen besteht die Traurigkeit aus vielen kleinen Teilen. Ein Verlust zerfällt in viele kleine Schmerzen. Theoretisch kompensiert der Arme seinen Schmerz durch den Schmerz, den die Armut selbst schon schafft: Er entspricht seinem Naturell. Isora leidet so sehr, dass sie es selbst gar nicht merkt, sie denkt, das Leben sei halt so. Isora wirkt nicht verbittert. Das Glück kennt seltsame Spielarten.
Sie muss doch bei ihm sein
Als ihr jüngster Sohn José den Dorfladen in Brand steckte, legte sie sich an seine Seite und küsste ihn auf die Wange. Der Brandgestank durchschnitt die Luft. Der Sohn beruhigte seine Mutter, bis ihn die Polizei mitnahm. Bei José wurde Schizophrenie diagnostiziert. Isora besuchte ihn im Gefängnis, ihr wohlsortiertes Elend in der Tasche. Sie muss doch bei ihm sein.
Eine Zeitlang konnte sie ihn nicht besuchen, und er versuchte zweimal, sich die Beine zu amputieren. José braucht sie, sie muss ihm von ihen Nichtigkeiten erzählen, eine Zigarette anzünden und sehen wie er lächelt mit seinen braunen Zähnen.
Obwohl Isora Witwe ist, bekommt sie keine Rente. Ihr Wohnraum gehört ihr nicht, denn das registrieren zu lassen, wäre eine weitere bürokratische Endlosschleife. Niemand kommt die staubige Schlange hoch, die Hauptstraße von La Picadora, den Weg zu ihrem Haus. Sie schläft auf Stofffetzen,. Sie besteht aus Fetzen von anderen.
Ich habe sie gefragt, was sie sich für ihr Leben wünschen würde. „Ein paar Wasserkanister,“ antwortete sie. Das Glück ist etwas sehr privates.
* * *
Versión original:
Días a cuesta
En cambio, nunca se había detenido frente a un objeto como lo hace ahora. Isora Gómez sabe que se trata de un teléfono celular. Los ha visto ya. Ha visto, también, cerraduras, peines, agujas, latas, aros, tazas, cables, lazos. Sin embargo, esta imagen no la remite a nada, o la remite a una amnesia anterior a los signos: Nada.
Isora Gómez está parada junto a la pila de basura nueva. Tiene 80 años de desgaste sobre un cuerpo de 62. Revuelve con un palo hasta dar con algo que le guste. Es una mujer con suerte. De todas las que hurgan en la basura solo ella ha encontrado sandalias de su talla, casi nuevecitas. Una vez halló un reloj y un muñeco con forma de pato. Vivir en el vertedero es adentrarse en ajenos vertederos íntimos.
La jaba de mimbre deshilachada tiene la vulgaridad de las cosas comunes: aquellas de las que no conseguimos deshacernos, las que se adhieren parasitariamente a la vida, las que revelan eso que somos. Isora encontró la jaba de mimbre hace años. Con ella entró en el Sanatorio de enfermos de SIDA, antes que muriera uno de sus ocho hijos. Con ella atravesó las galerías de la prisión provincial, para ver al menor de todos. En la jaba acaba de depositar las sandalias, un caldero, una fosforera Bic. El teléfono celular, en cambio, lo lleva en su mano, como un artículo extraviado de alguna civilización posterior, como el cristal de Murano hipersensible.
Hace diez años que la Unidad Presupuestada de Servicios Comunales en Caibarién (al centro de Cuba) trasladó el vertedero municipal desde la comunidad La Picadora hasta un área despoblada. Pero arrojar desperdicios al sitio se hizo hábito y aún aparecen, en los alrededores, accesorios de oficina, útiles de enfermería, desechos orgánicos. Como Isora, otras quince familias (aproximadamente) han erigido sus ranchos en la ciudadela. No hay registro urbano que ofrezca datos precisos sobre esta pequeña sociedad de parias. Nadie sabe si fue vecindario o basurero inicialmente, aunque da igual, ambas cosas son estiércol, mugre bajo la alfombra, la postal fea donde nadie demora la mirada.
Isora se posa, como un pájaro sucio, en la esquina del portón. Se apoya en la pared de tablas y prende un cigarro. Al morir su hijo seropositivo decidió, de una buena vez, no dejar jamás de fumar y ahora se quiebra en un espumarajo hediondo cada vez que tose. En el rancho de cuatro por cuatro que llama casa vive con su hija María Luisa y su nieto de 14 años. A veces no hay agua, me dice, a veces uno deja de bañarse en días pa cocinarle el bocaʼo de comida a los muchachos.
El agua no sube a La Picadora. Cada tres días llevan una pipa al caserío. Pero no alcanza. Ni siquiera alivia. Desde diciembre de 2015 la Empresa de Acueducto y Alcantarillado en Caibarién intenta reparar las averías en la red hidráulica. Las labores de reparación no dependen únicamente de esta empresa, sino de recursos, equipamiento, fuerza de trabajo, presupuestos y autorización de terceras, cuartas y enésimas instancias. Bañarse o cocinar requiere un trámite en caracol, un bucle burocrático infinito.
Isora tiene esa piel fibrosa parecida al cuero. Su silueta no es humana, pertenece a la fabulación. Su espalda no es espalda, sino lomo. Quizá para sostener los bloques del dolor, para echarse los días a cuesta. Isora colecciona pérdidas. El 31 de octubre de 2014 perdió una bisnieta de 11 meses. La enterró allí, junto al hijo seropositivo, a orillas del basurero. El basurero está allí, a orillas del cementerio. La muerte de los suyos nunca ha admitido la alegoría del viaje. Bastan dos zancadas. Basta ladear la mirada. Para los pobres la tristeza es fragmentaria. Una pérdida se disemina en pequeñas penas. En teoría un pobre compensa su dolor con el propio dolor que es ya la miseria: su estado natural. Isora sufre tanto que ni siquiera lo sabe, piensa que la vida es solo eso. No parece, Isora, una mujer amarga. Extraños modos de la felicidad.
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