Armut in Kairo: Im Land der Müllsammler
Im Kairoer Viertel Ezbet al-Nakhl müssen zahlreiche Familien vom Müll der Anderen leben. Die meisten sind Kopten. Nonnen kümmern sich um die armen Familien.
KAIRO taz | Heute gibt es in Ägypten keine Schweine mehr", sagt Dr. Adel. "Das Problem ist gelöst." Das Thema sei tabu. Dr. Adel leitet die Klinik des Salam-Zentrums im Viertel Ezbet al-Nakhl im Nordosten Kairos. Er ist ein kleiner, untersetzter Mann von 62 Jahren, der mehr als die Hälfte seines Lebens unter den Ärmsten der Armen in der nordafrikanischen Megametropole verbracht hat.
Als koptischer Christ und Arzt hat er sich eine Lebensphilosophie zu eigen gemacht, die Pragmatismus und energisches Zupacken miteinander verbindet. Das hat ihn zu einer Vater- und Führungsfigur im Salam-Zentrum gemacht, das sich ganz besonders um die Müllsammler und ihre Familien kümmert.
Von den 600.000 Einwohnern des Viertels Ezbet al-Nakhl sind knapp 8.000 Müllsammler. Die meisten von ihnen sind Kopten. So nahm denn über Jahre niemand Anstoß daran, dass diese Müllsammler auch Schweine hielten, die den organischen Abfall, der tagtäglich eingesammelt wurde, schlicht auffraßen.
Das änderte sich schlagartig mit dem Auftreten der Schweinegrippe. Auf dem Höhepunkt der Hysterie vor einem Dreivierteljahr ordnete die Regierung in Kairo an, dass zum Schutz der Bevölkerung vor einer Epidemie alle Schweine im Lande gekeult werden müssten.
Dass die Schweine mit dieser Krankheit kaum mehr zu tun hatten, als dass sie ihr den Namen liehen, störte die Regierung dabei wenig. Schweinebesitzer, die der Tötung nicht zustimmten, erhielten keinerlei Entschädigung.
Und wer sich schließlich ins Unvermeidliche fügte, musste sich auch noch mit weniger als einem Drittel des Kaufpreises zufriedengeben.
Wenn die Situation in Kairo Mitte April so ist wie heute, fällt die geplante taz-Reise vom 8. bis 16. April natürlich aus. Aber es gibt berechtigte Hoffnung, dass Mubarak und seine Clique in zwei Monaten aus Kairo verschwunden sind. Dann könnte die taz-Reise nach Kairo spannender und vielfältiger werden denn je: Die Menschen, die wir bei der Reise üblicherweise treffen, werden so viel zu erzählen haben wie noch nie.
Unser Reiseleiter Magdi Gohary ist zurzeit in Kairo, er ist überwältigt von den Ereignissen. Alle, die sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen wollen, vor Ort mehr über die Proteste zu erfahren, bitten wir, sich jetzt beim Veranstalter Nomad-Reisen vormerken zu lassen: Tel. (0 65 91) 94 99 80.
Mitte März werden wir dann kurzfristig entscheiden, ob die Reise tatsächlich stattfinden kann.
Mehr Information zu taz-Reisen iin die Zivilgesellschaft unter www.taz.de/tazreisen, Tel. (030) 25 90 21 17
In Ägypten hatte sich damit das Problem Schweinegrippe über Nacht erledigt. Im Rest der Welt dauerte es bekanntlich ein paar Wochen länger.
In den dutzenden eingezäunten Müllsortierstellen, die sich mitten in Ezbet al-Nakhl befinden, eingerahmt von sechs- bis zehnstöckigen Wohnhäusern, sind die Pferche, die früher den Schweinen ein Zuhause boten, verwaist.
Nur in zweien dieser Pferche suchen jetzt ein paar Ziegen und Schafe nach verwertbarem Abfall. Doch Schafe und Ziegen fressen nicht dasselbe wie Schweine. Der organische Müll bleibt deshalb lange in den Straßen liegen und verrottet, bestialisch stinkend, in der Sonne.
Noch immer meiden die Müllsammler organischen Abfall wie Gemüse, Obst oder Essensreste. Als "freie Unternehmer" wären sie nach ägyptischem Recht gezwungen, für den Abtransport nicht verwertbaren Mülls zu sorgen.
Den Transport des Restmülls zu einer entsprechenden Müllhalde können sie sich aber schlicht nicht leisten. Etwa 80 Prozent des Mülls, den sie einsammeln, bringen sie zur Wiederverwertung in den Wirtschaftskreislauf. Das macht ihren kargen Lohn aus.
Für das Müllsammeln selbst, das die Stadtverwaltung gegen eine Gebühr jeweils für bestimmte Straßenzüge genehmigt, erhalten sie keinen Piaster.
In das Salam-Zentrum in Ezbet al-Nakhl gelangt man durch eine Gasse, die gerade mal breit genug für ein Auto ist. Das Hoftor wird von einem Wärter geöffnet und gleich nach dem Einfahren wieder verschlossen.
Vom weitläufigen Innenhof, der mit Bäumen bepflanzt ist und um den herum sich mehrere Gärten gruppieren, blickt man auf vierstöckige Gebäude, in denen sich die sozialen Einrichtungen befinden, die das Zentrum für die Familien und für die Kinder der Müllsammler bereithält.
Das erste Gebäude, auf das man vom Hof aus trifft, beherbergt den Kindergarten. In drei verschiedenen Zimmern sind jeweils etwa 20 Kinder untergebracht.
Je nach Altersstufe spielen sie im Raum unter Anleitung einer Kindergärtnerin oder sitzen wie in einer Vorschule an Tischen und folgen den Anweisungen der weiblichen Aufsichtsperson. Im hintersten Raum befindet sich die Kinderkrippe mit etwa sechs Betten, in denen die ganz Kleinen schlafen oder große Augen machen, als eine ihnen völlig unbekannte Person ins Zimmer lugt.
Kinder im Alter von einem Monat bis zu sechs Jahren finden Aufnahme in diesem Kindergarten. Im kleinen Hinterhof des Kindergartens stehen mehrere Spielgeräte wie Rutschen, Schaukeln und Karussells unberührt in der prallen Sonne.
Die gegenüber liegende Wand ist mit diversen kindlichen Motiven geschmückt. Ein Teddy malt einen Ball an, der von einem Seehund mit Mütze auf der Schnauze balanciert wird, ein jüngerer Seehund in Blau jongliert mit zwei Bällen, und eine Gitarre, eine Trompete und eine Trommel zieren die linke Wandseite.
Ganz stolz ist Ordensschwester Miriam, die Oberin des Salam-Zentrums, auf die Betreuung geistig und körperlich behinderter Kinder, die im Haus gleich neben dem Kindergarten ihren Platz gefunden haben.
Mit einem Eimer am Arm steht ein etwa Zwölfjähriger vor diversen Gegenständen. Er soll auswählen, welche davon in den Eimer gehören könnten. Für jedes Kind steht jeweils ein Betreuer oder eine Betreuerin zur Verfügung.
"Montessori" ist hier kein Fremdwort, sondern eine angewandte Methode, die den Kindern Gefühl und Verständnis für die Dinge in dieser Welt vermitteln soll. In ihren eigenen Familien wäre eine solch intensive Betreuung unvorstellbar.
Seit 1976 hat der Konvent der Töchter der Heiligen Maria diese Einrichtung nach und nach auf- und ausgebaut. Sie steht nicht nur koptischen Christen offen, sondern Angehörigen aller Religionen und Ethnien, wie Schwester Miriam betont.
Die Initiative ging von einer pensionierten französischen Ordensschwester namens Emmanuelle aus, die hier in Kairo eine neue Lebensaufgabe fand. Heute leben 19 Schwestern in dem Konvent. Nachwuchssorgen wie in Europa kennt man hier in Ägypten nicht.
Am Anfang der Arbeit stand die medizinische Versorgung der Müllsammler und ihrer Familien im Zentrum. Doch bald fragten die Einwohner des Viertels nach einer Schule für ihre Kinder, wie Schwester Miriam zu berichten weiß. In der Mahaba-Schule, die sich heute direkt neben den Müllsortierplätzen in Ezbet al-Nakhl befindet, lernen derzeit knapp 3.000 Kinder.
"Ignoranz, Armut und Krankheit, das sind die drei übelsten Geißeln in diesem Viertel", sagt Schwester Miriam. So sei es erst einmal darum gegangen, für die Frauen im Viertel Personalausweise zu beantragen, damit sie wenigstens die spärlichen Einrichtungen des ägyptischen Sozialstaats in Anspruch nehmen können.
Auch habe man den Familien beibringen müssen, dass Kinder eine Geburtsurkunde brauchen, damit sie zum Arzt oder zur Schule gehen können.
In einem riesigen Raum in der ersten Etage eines anderen Gebäudes des Salam-Zentrums haben sich rund 40 Frauen versammelt. Hier ist Frontalunterricht angesagt.
Die Lehrerin schreit in den Raum, hin und wieder melden sich einzelne Frauen zu Wort. Heute steht auf dem Programm: "Wie löse ich ein Problem?" Geduld müsse man den Frauen nahebringen, sagte eine Übersetzerin. Sie sollten nicht gleich ausrasten, wenn etwas schiefläuft.
Die Programme für Frauen umfassen auch eine Beratung über zivile und soziale Rechte, für die ein Rechtsanwalt ins Zentrum kommt. Andere Kurse beziehen sich auf Gesundheit, Alphabetisierung und Erziehung. Zudem gibt es Nähkurse, in denen Tücher und Schals hergestellt und dann zum Verkauf angeboten werden.
Zu Ehren der ausländischen Gäste wird heute sogar feierlich ein Friseurdiplom überreicht. Sechs Wochen lang haben die jungen Frauen je drei Stunden am Tag unter fachlicher Anleitung gelernt, wie man Haare schneidet, manikürt, pedikürt und dezent schminkt. Das Ergebnis kann sich sehen lassen.
Die meisten der Absolventinnen mit Diplom arbeiten dann in der Nachbarschaft. Ähnliche Abschlüsse gibt es für Alterspflegerinnen, die alleinstehende ältere Menschen begleiten, für sie einkaufen oder einen Teil der Hausarbeit übernehmen.
"Der Effekt der Globalisierung hat auch vor den arabischen Familien nicht haltgemacht", sagt Schwester Oberin Miriam. Immer mehr ältere Menschen würden alleingelassen und nicht mehr wie früher in den arabischen Großfamilien von den Kindern betreut und versorgt. Auch deshalb habe man längst eine Art Altersheim in der Nähe der Müllsortierungsstellen aufgebaut.
Morgens von 7 bis 9.30 Uhr gibt es in den Klassen im Salam-Zentrum einen Zusatzunterricht durch examinierte Lehrkräfte. Dafür müssen die Eltern etwa zwei Euro im Monat bezahlen. Musik und Tanz und ein Computerkurs fehlen im Zentrum natürlich auch nicht.
Getragen wird das Projekt vor allem durch Spenden aus aller Welt. "Bildung", sagt Dr. Adel, "ist das Schlüsselwort für die Zukunft der Kinder der Müllsammler."
Anm.: Diese Reise wurde von Biblische Reisen Stuttgart finanziert.
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