Armut in Berlin: Zwischen Görlitzer Park und Kotti
Nachts schläft Olanda Grigore mit ihrer Familie im Zelt. Am Tag putzt sie Autoscheiben. Viel von Berlin kennt sie nicht. Aber sie hofft auf Arbeit – und einen Schulbesuch.
Olanda ist schüchtern, wenn man sie anspricht, lächelt aber vertrauensvoll, wenn sie Rumänisch hört. Ihr Blick ist müde, die Finger sind etwas geschwollen, das Haar ist lang, war einmal kastanienbraun gefärbt, man kann noch Restfarbe an den Spitzen entdecken. Olanda redet nicht lange, sie hat keine Zeit und keine Antwort auf die Frage, ob es ihr in Berlin gefällt, nur ein flüchtiges Schulterzucken. Schon ist sie zurück auf der Straße.
Die 14-Jährige lehnt sich an der Kottbusser Straße auf die Haube eines Autos, beginnt es zu waschen und spricht die Autofahrer auf Rumänisch an: „Lasa-ma sa spal, da-mi si mie un euro, bitte.“ – „Lass mich waschen, schenk mir auch einen Euro, bitte.“ Die Reaktion der Fahrer ist unterschiedlich: verblüfft, genervt, neugierig, gelassen. Viele reagieren zu spät: Bevor sie mit einem Kopfschütteln oder dem Zeigefinger ein Zeichen geben können, dass sie ihre Autoscheibe nicht gewaschen haben wollen, hat Olanda schon längst Wasser draufgespritzt.
Wenn die Ampel Grün zeigt, kommt sie zurück auf den grünen Mittelstreifen, beantwortet der Journalistin ein paar Fragen und ist schnell wieder weg. Denn Zeit ist Geld: An guten Tagen verdienen sie und ihre Geschwister zusammen 5 bis 10 Euro. An schlechten sind es 3 bis 5 Euro.
„Die meisten sind freundlich“
Olanda Grigore ist Romni aus Rumänien und wohnt seit etwa zwei Monaten im Görlitzer Park. Ihr Name ist ein Land (Holland), das weiß sie; wo das liegt, kann sie jedoch nicht genau sagen. „Ich glaube, nicht weit von hier.“
Tagsüber putzt Olanda Autoscheiben, gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern. An die Autofahrer hat sie sich gewöhnt: „Manche geben dir ein paar Cent, andere nicht, da putzt man manchmal umsonst. Aber die meisten sind freundlich.“
Wenn es Stau an der Ampel gibt, geht sie absichtlich zu den Autos in der hinteren Reihe, die werden das erste Grün bei der Ampel sowieso nicht schaffen und haben dann Zeit, nach Kleingeld zu suchen.
Berlin kennt Olanda eigentlich nicht. Die Stadt ist immer noch sehr klein für sie, besteht nur aus der Strecke zwischen dem Zelt am Görlitzer Park und der Kreuzung am Kottbusser Tor. Hier ist sie mit ihrer Familie Ende Juli angekommen, hier ist sie geblieben. Weiter hat sie es nicht geschafft. Keine Zeit dafür. Kein Geld, Angst, keine Gründe.
Es gibt viel Verkehr am Kotti, viele Autos, da kann man Geld verdienen, wieso also irgendwo anders hingehen? Olanda kennt kein Brandenburger Tor, keinen Alexanderplatz und auch keine Schulbank. Sie kennt aber den Lidl um die Ecke, wo ihre Mutter bettelt, sie kennt die Türkin von einer Bäckerei, wo sie manchmal abends Brötchen bekommt, und das Krankenhaus, in das ihr Vater vor einiger Zeit eingewiesen wurde.
Warum gerade Kottbusser Tor? Dorthin hat sie ein Cousin gebracht. Er arbeitet seit längerer Zeit in Berlin. „Wir hatten kein Geld für die Reise, unser Cousin hat uns mit einem Bus gebracht, der bringt mehrere Leute hierher“, erklärt die Mutter Maria Grigore. Während sie spricht, grüßt sie den ein oder anderen, der an der Kottbusser Straße vorbeikommt, auf Rumänisch. Ob es ein Busunternehmen oder ein Privatwagen gewesen sei, mit dem sie kamen, kann oder will sie nicht sagen. Der Cousin sei in der Baubranche tätig, da seien viele der hierhergezogenen Männer tätig.
Olanda hört schwer auf einem Ohr, kann nicht lesen und schreiben, würde es aber gern lernen: „Bitte, schreiben Sie, dass ich in die Schule gehen will“, sagt sie. Vor allem, um Deutsch zu lernen. So wie ihre Freundin Salomea. Die habe es jetzt gut, sagt Olanda. Salomea wird nur noch ab und zu gemeinsam mit Olanda Autoscheiben putzen. Ihre Mutter schickt sie in die Schule. Aber bei Salomea sei es eine andere Situation, so Olanda. Sie sei länger in Berlin, ihre Mutter habe nun ein Zuhause gefunden.
Olanda wohnt in einem Zelt, im Görlitzer Park, nahe dem ehemaligen Bahnhofsgebäude – mit Mutter, Vater, drei Schwestern, drei Brüdern und der Schwägerin mit einem Baby, sechs Monate alt. Hingehen oder reingucken darf man als Fremder nicht in das Zelt, auch die Beschreibung des neuen „Zuhauses“ ist vage. Olandas Mutter zeigt es nur von Weitem; es seien mehrere Familien da, in der gleichen Situation. Ein bisschen Scham merkt man ihr an. Im Zelt liegt ihr Mann, sagt sie, er sei krank und deshalb nicht so gesprächig. Zweimal in der Woche geht die Familie in ein öffentliches Bad, um zu duschen und Wäsche zu waschen, sie kochen auf einem kleinen Herd im Park, meist Gemüsesuppe.
Maria Grigore ist 44 Jahre alt, sie trägt einen blauen Schal um den Kopf, einen langen, blauen Samtrock und eine graue Jacke. Sie sagt: „Ja, wir betteln auch, aber wir stehlen nicht.“ Maria Grigore zählt ihre Wünsche auf: eine Wohnung, idealerweise mit zwei Zimmern, „mehr nicht“, ärztliche Behandlung für ihren Mann und Arbeit für sie und ihren älteren Sohn, er ist 26. Olandas Mutter möchte putzen, reinigen, Flaschen einsammeln, Ware schleppen – egal was, nur nichts, wo man schreiben und lesen muss, das kann sie nicht so gut, eigentlich kaum. Maria Grigore möchte auch, dass ihre Kinder in die Schule gehen. Zumindest vier bis fünf Klassen, damit sie lesen und schreiben lernen. Aber wo? „Ich kann sie doch nicht einfach so in die Schule schicken“, sagt die Mutter. Von Willkommensklassen, kostenlosen Alphabetisierungs- und Deutschkursen, die derzeit für rumänische und bulgarische Kinder angeboten werden, hat sie noch nie gehört.
Seit Bulgarien und Rumänien 2007 der Europäischen Union beigetreten sind, wandern aus diesen Ländern verstärkt Familien, darunter auch Roma, nach Berlin. Wie viele Roma es sind, lässt sich kaum sagen, da Einwanderer nach Staatsangehörigkeit und nicht nach Ethnie erfasst werden. Nach Angaben des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg sind derzeit rund 27.000 Bürger aus diesen beiden Ländern in Berlin angemeldet, rund 9.900 Rumänen und mehr als 17.000 Bulgaren, Tendenz steigend. Ende 2012 waren es knapp 16.000 Bulgaren und rund 8.800 Rumänen, die Zahl ist also in einem halben Jahr um jeweils rund 1.000 gestiegen. Die meisten wohnen in Mitte und Neukölln. Vor allem Familien mit vielen Kindern ziehen derzeit hierher. Allein in Neukölln wurden im vorigen Jahr rund 800 Kinder aus diesen beiden Ländern eingeschult. Viele Familien sind allerdings nicht oder nur teilweise angemeldet – mit Schule oder Deutschkursen ist es dann schwierig.
Maria weiß, sie braucht ein Papier, die „Meldung“ – sie meint die Wohnungsanmeldung – aber sie kennt den Weg zum Bürgeramt nicht und hat auch keine Wohnung zum Anmelden. Sie kann keine Adressen lesen, weiß nicht so genau, was „U8“ heißt, erst bei dem rumänischen Wort metrou lächelt sie erleichtert. Ja, U-Bahn sei sie schon öfter gefahren, das letzte Mal zu einer Ärztin, die ihren kranken Ehemann untersuchen sollte. Die Station hieß etwas mit „Mehr…“ und am Ende mit zwei m: Mehringdamm, ja! Und die nette Ärztin grüßte auf Rumänisch und schickte ihr eine SMS mit den Kontaktdaten eines anderen Facharztes. Doch die Adresse kann sie nicht richtig lesen, das muss ihr älterer Sohn für sie tun. Maria Grigore hofft, dass sie den Arzt versteht. Vielleicht spricht er Spanisch.
Fünf Jahre hat die Familie in Spanien gelebt, in Valencia Orangen, Erdbeeren und Knoblauch gesammelt und damit Geld verdient. Dort musste Maria Grigore mit ihrem Mann auch zum Arzt. Seit neun Jahren ist er krank. Vor zwei Monaten, gleich zwei Tage nach ihrer Ankunft in Berlin, musste sie mit ihm in die Notaufnahme. Eine nette Krankenschwester habe ihr auf Spanisch übersetzt, was die Fachärztin erklärt hatte. Es gebe „große Probleme“. Der Mann hat bereits drei Herzinfarkte hinter sich, jetzt noch Diabetes und Leberprobleme. Aber das kennt Maria schon aus Spanien.
„10 Euro am Tag reichen völlig aus“
Ist es denn hier wirklich besser als in Rumänien? Ja, meint Maria, wenn alle arbeiten, kommen doch „10 Euro am Tag raus“, sagt sie. „Das reicht fürs Essen, für Gemüse und Brot, manchmal auch für Fleisch. Hier kostet ein Brötchen 15 Cent, in Rumänien sind diese viel teurer.“ In ihrer Heimatstadt Alexandria habe sie knapp 50 Euro im Monat verdient. Was sie da gearbeitet hat, will sie nicht sagen. In Deutschland sei es jedenfalls besser, sagt Maria Grigore, ohne dass sie so richtig begründen könnte, warum.
Und wenn es in Rumänien ein Dach über dem Kopf gibt? „Was soll man damit machen, wenn man nicht genug zu Essen hat?“ Maria schüttelt den Kopf. Das Zelt sei ja auch nicht so schlimm. Die Polizei hier sei nett, das Reinigungspersonal im Park auch, man behandle sie gut.
Manchmal wird Maria Grigore wütend, wenn sie an Rumänien denkt. Manchmal ist sie empört, schüchtern, resigniert. Aber sie wirkt nie traurig, nie klagt sie. Sie hofft. Immer noch. Auf eine Arbeit, irgendwo, egal wo. Bis dahin bettelt sie und putzt Autoscheiben. Sie würde, außer um Geld, auch gerne um Brot und Gemüse betteln, sagt sie. Aber wie man das auf Deutsch sagt, weiß sie es nicht. So bleibt sie beim „Bitte, ein Euro, 50 Cent“. Und bei der Hoffnung auf einen milden Winter.
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