Armin Nassehi trifft Danyal Bayaz : Machen statt Utopien
Kleben und blockieren – oder erfinden und gründen? Wie kann der engagierte Bürger die Wirtschafts- und Klimawende voranbringen? Der Soziologe Armin Nassehi und der baden-württembergische Finanzminister Danyal Bayaz im taz FUTURZWEI-Gespräch.
Interview: PETER UNFRIED
taz FUTURZWEI: Sind Protestformen wie Ankleben auf Straßen und Blockieren von Flughäfen hilfreich, Herr Nassehi?
Armin Nassehi: Die Frage ist immer, wofür hilfreich? Protestbewegungen beginnen moderat und suchen dann Formen, die noch mehr Aufmerksamkeit erzeugen. Das hat funktioniert und ist auch alles erwartbar. Dabei sind die Forderungen überhaupt nicht radikal: 9-Euro-Ticket und Tempolimit, eine Revolution ist das nicht.
Wie sehen Sie es als Politiker in Verantwortung, Herr Bayaz?
Bayaz: Jürgen Habermas hat das Insistieren auf den »Rechtstaat« in diesem Zusammenhang als »autoritären Legalismus« bezeichnet, das hat mir zu denken gegeben. Es bedeutet für mich: Liebe Aktivisten der letzten Generation, prüft ernsthaft, ob eure Mittel die richtigen und nicht eher anmaßend sind. Denn es gibt keine Rechtfertigung dafür, gegen den Rechtsstaat vorzugehen, auch wenn man glaubt, die Moral auf seiner Seite zu haben.
Inwiefern hilft es trotzdem?
Bayaz: Ich glaube, es schadet dem Klimaschutz, weil es Leute nicht zum Mitmachen ermuntert, sondern nervt. Und diejenigen, die konzeptionell wenig anbieten zu haben zur Bewältigung des Klimawandels, können jetzt ablenken und von der Klima-RAF reden. In einer Demokratie braucht man Mehrheiten, gute Argumente und Maßnahmen, die funktionieren. Das 9-Euro-Ticket und Tempolimit sind legitime Instrumente, aber wir müssen größere Räder drehen.
Nassehi: Wenn man sieht, dass an dem Thema im Moment kein Mensch vorbeikommt, dann haben die Protestbewegungen, die Letzte Generation und vor allem Fridays for Future, ihre Aufgabe erfüllt.
Die interessante Frage dieses Jahres lautet jetzt: Wie kann die Politik aus dieser aufmerksamkeitsökonomisch sehr wichtigen Phase etwas machen? Die weitergehende Frage ist, ob eine Gesellschaft, in der es unterschiedliche Konzepte gibt, mit denen man arbeiten muss – wissenschaftlich, ökonomisch, politisch, auf Alltagsebene –, ob so eine Gesellschaft sich auf eine kollektive Herausforderung einstellen kann, obwohl sie kein Kollektiv ist? Daran hängt das Ganze.
Sie sprechen als Systemtheoretiker von den unterschiedlichen Systemen, die ihre eigenen Logiken, Zwänge und Ziele haben.
Nassehi: Ja. Das muss demokratisch funktionieren, und es ist schwierig, innerhalb der Politik wählbar zu sein, mit Dingen, die womöglich Praktiken ändern oder gar Verzicht sind. Aber dann muss es sich auch noch ändern in einer Volkswirtschaft, die funktionieren muss, damit man die Ressourcen hat, um die Dinge überhaupt zu machen. Und man muss etwas ändern in einem Alltag, der sich bewährt hat, und einer Welt, deren Motor läuft und den man nicht anhalten kann.
Armin Nassehi, 63, ist Professor für Soziologie an der Uni München, Systemtheoretiker und Herausgeber des Kursbuch. Standardwerk über Protest: Das große Nein (kursbuch.edition). Kommt aus Tübingen und Gelsenkirchen. Lebt in München.
Damit tun sich alle schwer.
Nassehi: Die Klimaprotestbewegung ist letztlich nur der Seismograf dafür, dass genau das nicht gelingt. Die Diskussion hat ja eben nicht 2018 mit Greta begonnen, sondern mit dem Club of Rome in den frühen 1970ern. Man kann also tatsächlich verzweifeln, dass die Dinge sehr wohl bekannt sind und es trotzdem offenbar sehr schwer ist, Gegenmaßnahmen erfolgreich umzusetzen.
Bayaz: Wir sind jetzt von der einen Megakrise in die nächste geraten. Und jedes Mal erleben wir den Impetus: Jetzt aber wirklich handeln. Jetzt mal wirklich anders. In der Pandemie war das ein sehr starkes Gefühl, aber den Neustart hat es dann nicht wirklich gegeben. Und der schreckliche Angriffskrieg mit all seinen Folgen wird auch nicht diesen großen Neustart herbeiführen. Fortschritt ist eben keine lineare Funktion, sondern zickzack und das klingt jetzt oberrealomäßig ...
... alles andere hätte uns bei Ihnen jetzt auch irritiert ...
Bayaz: ... aber am Ende gilt die Karl Popper‘sche Stückwerktechnologie, es bleibt, kleine Schritte in die richtige Richtung zu gehen. Aber Krisen können Beschleuniger auf dem Weg sein, das haben wir durch Corona in der Verwaltung erlebt, wo die Digitalisierung einen Schub erfahren hat, der unter normalen Umständen in dieser kurzen Zeit nicht möglich gewesen wäre. Und durch den russischen Angriffskrieg sind Erneuerbare und Klimaschutz auch unter dem Aspekt von Energiesicherheit und Geopolitik top of the agenda. Da werden wir als Bürger auch neu überlegen, ob uns wirklich ein paar Windräder am Horizont stören. Das ist ein Momentum, das man jetzt nutzen kann.
Nassehi: Ich glaube auch, dass eher evolutionäre als disruptive Schritte möglich sind, dass aber disruptive Ereignisse uns dazu bringen, die kleinen Schritte wirklich zu gehen. Wenn es jetzt keinen politischen Anreiz gibt, Erneuerbare stärker zu machen, wann dann? Und die Märkte helfen sogar noch dabei, indem sie fossile teurer machen. Aber wir werden nicht sauber aus der Sache rauskommen.
Heißt?
Nassehi: Die große Sehnsucht von allen, die Transformation wollen, ist es, eine reine Form dafür zu finden, um sich nicht die Hände schmutzig zu machen. Am liebsten hätten wir, dass die Leute alles aus Überzeugung und reinem Herzen machen. Aber das ist nicht möglich.
Danyal Bayaz, 39, ist seit Mai 2021 (Grüner) Finanzminister von Baden-Württemberg. Davor war er seit 2017 Bundestagsabgeordneter. Promovierte über privates Beteiligungskapital. Kommt aus Heidelberg, pendelt zwischen Beruf und Familie zwischen Stuttgart und München.
Was ist möglich?
Nassehi: Viele hilfreicher wäre es daher, wenn man die Anreize hätte, durch die die Leute das Richtige tun, und die Überzeugungen dann im Nachhinein kommen. Bei fast allen Transformationen und sozialen Maßnahmen werden die schönsten Dystopien beschworen, der Mindestlohn wird 800.000 Arbeitsplätze kosten und so weiter; nichts davon ist eingetreten. Die Kunst von Politik und Wissenschaft besteht darin, Bedingungen einer Transformation so zu beschreiben, dass das, was sich ändert, sich im unternehmerischen und privaten Alltag bewähren kann. Diese Übersetzungsleistung muss man hinkriegen, und das stört all die, die schon zufrieden sind, wenn sie die starken Sätze gesagt haben. Das sind nicht nur Protestbewegungen, sondern kommt auch in Wissenschaft, in Politik und Medien vor.
Luisa Neubauers engagiert-vernünftiges Sprechen wird von einer breiten Öffentlichkeit unterstützt, aber der klimapolitische Fortschritt erscheint Aktivisten zu gering, sodass sie Form und Sprache verschärft haben. Neubauer muss jetzt selbst auch stärker im anklagenden Wokie-Wording sprechen, um ihre Position innerhalb des Protests zu behalten.
Bayaz: Auch bei dem, was Sie zugespitzt Wokie-Wording nennen, frage ich mich: Hilft es? Wenn es dazu führt, dass Klimaschutz nur als ein weiteres Thema neben berechtigen Dingen wie der postkolonialen Frage und Gender verstanden wird, dann geht das zentrale Thema unter. Vor allem, wenn es dadurch in einer Ecke landet, die von vielen als links wahrgenommen wird. Wenn man diese Übersetzungsleistung hinkriegen möchte, von der Armin Nassehi spricht, dann muss man das Problem mit unserem gesellschaftlichen System, mit Unternehmertum und Ingenieursleistungen verzahnen, es muss auch für den Facharbeiter in der Zulieferindustrie funktionieren. Wenn Klimaschutz als linkes Thema geframt wird, dann wird es in wirtschaftsliberalen Kreisen nicht ernstgenommen. Das ist meine Hauptkritik an den Aktivisten.
Marktwirtschaft statt Antikapitalismus?
Bayaz: Ja. Ich lese immer wieder diesen Aktivisten-Spruch: »Change the system, not the climate.« Ich glaube, dass sie die Ziele, die sie sich vorgenommen haben, mit diesem Narrativ nicht erreichen. Lasst uns viel intensiver darüber sprechen, wie wir Marktwirtschaft nutzen können, um ökologische Ziele zu erreichen. Wie wir privates Kapital für den Klimaschutz mobilisieren. Wir in Baden-Württemberg sind ein Industrieland: Autos, Chemie, Zement, Maschinen- und Anlagenbau, da entscheidet sich, ob wir die Transformation hinbekommen, sodass sie Nachahmer auf der ganzen Welt findet und nicht beim Tempolimit oder dem 9-Euro-Ticket. Ingenieur, Landrat, Unternehmerin, Aktivistin – jeder schaut anders drauf. Das zusammenzubringen, ist die Aufgabe der Politik.
Politik war in der Bundesrepublik 70 Jahre lang der fossile Sozialdemokratismus von Union und SPD – und das lief ja recht gut.
Bayaz: Volksparteien, wie wir sie in der Vergangenheit definiert haben, sind am Ende, und die neuen politischen Schwergewichte entstehen dort, wo die unterschiedlichen Logiken zusammengebracht und möglichst konsistente Antworten gegeben werden: Das Nutzen von Marktmechanismen, CO2-Preis, Kapital in die richtige Richtung bewegen, die richtigen Anreize für Innovationen und neue Verhaltensweisen setzen, darum geht es. Dafür muss man das alte Lagerdenken überwinden, und gerade haben wir im Moment eher die gegenteilige Bewegung.
Nassehi: Wenn es Volksparteien womöglich nicht mehr gibt im Hinblick auf die Repräsentation eines bestimmten Milieus, dann vielleicht aber auf die Repräsentation einer bestimmten Form von Transformationstechnik.
Was soll das genau heißen?
Nassehi: Da könnte ausgerechnet von den Grünen vielleicht ein neues politisches Konzept herauskommen, mit dem man tatsächlich vorankommt. Weil man sich da womöglich freimachen kann davon, dass man nur ein ganz bestimmtes Milieu abbildet. Wir führen immer noch diese Diskurse, in denen die Liberalen möglichst wenig Staat und die Linken möglichst viel Staat wollen. Das ist eine Unterscheidung aus der Steinzeit. Die neuen Fragen lauten: Welche Staatstätigkeit braucht es eigentlich? Wie kann man, um Ihre Formulierung aufzunehmen, Herr Bayaz, Kapital umlenken und privates Kapital umlenken? Wie kann der Staat womöglich selbst als Investor Anreize schaffen auf Märkten sowohl in der Produktion als auch in der Konsumption?
Sie reden auch vom Kapitalismus?
Nassehi: Ja genau, vom Kapitalismus müssen wir reden, weil das die Bedingung ist für vieles. Genau wie wir darüber reden müssen, dass das in einer demokratischen Form umgesetzt werden muss. Das heißt, es muss wählbar bleiben: Wie kann man eigentlich Dinge, die wehtun, wählbar machen? Die kulturelle Liberalisierung in den 70er-Jahren, die Transformation von Arbeitsmärkten, von Arbeitsschutz, von Wohlfahrtsstaat, das alles musste wählbar werden, damit das auch in Trägergruppen funktioniert, für die das nicht das zentrale Thema ist. Autokratische Systeme werden das nicht hinkriegen.
Warum nicht, da kann man zentral steuern und die Gegner müssen die Schnauze halten? Davon träumen auch Linke.
Nassehi: Genau das funktioniert nicht, weil wir eben nicht alles wissen, was gemacht werden muss. Das muss in einer Konkurrenz stattfinden.
Worüber alle Green-New-Deal-Vertreter ungern sprechen, ist die Frage, ob die Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch wirklich funktionieren kann.
Bayaz: In der EU ist die Wirtschaftsleistung seit 1990 um etwa 65 Prozent gewachsen. Gleichzeitig sind die CO2-Emissionen um über 30 Prozent gesunken. Das ist noch lange nicht da, wo wir hinmüssen, aber es geht in die richtige Richtung – und vor allem: Es funktioniert. Grundsätzlich vermisse ich ein Bild der Zukunft: Wo will diese Gesellschaft 2030 oder 2035 sein? Es gehört aber nicht nur Klimaschutz zum positiven Zukunftsbild, es gehören auch der Einsatz digitaler Technologien und Einwanderung dazu, angesichts von Fachkräftemangel und von Migration. Und es gehört dazu auch die Rolle der Europäischen Union. Deutschland allein wird von China schon lange nicht mehr ernst genommen.
»Volksparteien, wie wir sie in der Vergangenheit definiert haben, sind am Ende. Die neuen Schwergewichte entstehen dort, wo die unterschiedlichen Logiken zusammengebracht werden.«
Danyal Bayaz
Was soll ich denn nun als ein sich engagieren wollender Bürger genau machen, um diese sozialökologische Zukunft voranzubringen?
Nassehi: Das ist genau das Bild, das wir von einer Gesellschaft haben, in der wir leben: Was soll ich eigentlich machen? Wir können relativ wenig machen. Deshalb ist es falsch zu denken, dass diese ganze Transformation nur eine Frage des Einstellungswechsels ist. Es gibt eine »Déformation professionnelle« von Leuten, die in der Wissenschaft arbeiten und übrigens auch in der Politik. Die denken, man muss die Leute nur überzeugen, und dann läuft es auch. Leider Gottes ist das Problem komplexer. Wie kriegt man Produktmärkte dazu, sich tatsächlich zu verändern? Wie kriegt man Lebensformen dazu, sich wirklich zu verändern? Wie ändert man Mobilitätsstrukturen, die ja schon da sind?
Wie?
Nassehi: Ich glaube, dass die Schnittstellenfragenentscheidend sind. Wie kriegt man allein schon politische Akteure und unternehmerische Akteure so zusammen, dass sie gegenseitig verstehen, wo die Restriktionen eigentlich liegen? Diese ganze Start-up-Szene ist ja auch deshalb so interessant, weil sie viel schneller in der Lage ist, die Schnittstelle zwischen Wissenschaft, großen Unternehmen, Politik und Alltag anders zu organisieren und das dann zu übersetzen in größere Lösungen. Über Überzeugungen läuft das nicht.
Was haben Sie gegen Überzeugungen?
Nassehi: Ich lebe in einer Welt, in der es viele Überzeugungen gibt. Ich würde sagen, viel zu viele. Viel besser wäre, wenn man sich über die Prozesse Gedanken machen würde. Bestimmte Dinge sind keine guten Ideen mehr, aber es muss Alternativen dafür geben.
Funktionierenden öffentlichen Nahverkehr und pünktliche Bahn?
Nassehi: Genau. Ich mache viel Medizinsoziologie. Verhaltensänderung eines Patienten oder einer Patientin funktioniert immer nur, wenn sie in seinen Alltag passt. Speziell Verhaltensänderung oder gar Verzicht muss im Alltag funktionieren. Es wird nicht als Form von Büßertum gemacht, sondern als Verbesserung meines Lebens. Und gleichzeitig verbessert es womöglich bestimmte Dinge für das Ganze.
Bayaz: Menschen haben einen berechtigten Anspruch darauf, dass der Staat funktioniert. Da haben wir viele Beispiele, wo die Infrastruktur nicht so funktioniert, wie sie sollte. Etwa, was Nutzung öffentlicher Daten, schnelle Prozesse in den Behörden oder digitale Angebote öffentlicher Institutionen angeht. Das fängt ja schon beim Thema verständlicher Sprache an. Da müssen wir liefern. Es gibt aber auch eine darüber hinaus gehende Anspruchshaltung an den Staat, die gerade in der Pandemie noch mal zusätzlich kultiviert wurde. Jeden externen Schock, sei es eine Pandemie, sei es Inflation, seien es gestiegene Energiepreise, muss mir der Staat möglichst vollständig kompensieren: Die Haltung zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten, durch alle Branchen, egal, ob es ihnen gerade gut geht oder nicht. Aber wie soll denn der Staat 10 Prozent Inflation über zwei oder drei Jahre kompensieren? In Zeiten von knapper werdenden Ressourcen geht es auch beim Staat um Prioritäten.
»Gerade die besonders kritischen Milieus sind meist besonders weit weg vom Machen, weil sie nicht die operativen Probleme lösen müssen.«
Armin Nassehi
Ihr Ministerpräsident Kretschmann fordert Republikanismus, Herr Bayaz, also Bürgertugenden, die auf das Ganze zielen.
Bayaz: Ja, er sagte dabei auch: Demokratie ist kein Lieferservice. Ich weiß, das klingt immer kitschig oder übertrieben pathetisch, zumindest aus dem deutschen Mund, wenn man John F. Kennedy zitiert. Aber es geht schon auch darum, zu fragen: Welchen Beitrag leistest du? »Ask what you can do?« Und das eben gar nicht für den Staat, sondern für eine Gemeinschaft. Die Krisen sind ja auch ein Stresstest für die Demokratie und unsere Gesellschaft. Der Staat kann in einer solchen Situation nicht allen gleichsam helfen, und sollte es auch nicht. Genau das war der Fehler beim Tankrabatt oder bei der Umsatzsteuersenkung. Und auch der Uni-Prof und der baden-württembergische Finanzminister haben 300 Euro Energiegeld bekommen. Warum eigentlich? Entlastung muss es für die geben, die es dringend benötigen. Die anderen müssen in solcher einer Krise auch ein Stück weit Wohlstandsverluste hinnehmen.
Nassehi: Ich haue das hier in meinem Büro über die beiden Heizkörper wieder raus.
Sie scherzen. Hier ist es doch total kalt.
Bayaz: Und als Nächstes kommt die Frage nach dem Duschverhalten. Aber im Ernst: Der mangelnde Mut zu unbequemen Entscheidungen in der Politik hat auch dazu geführt, dass immer öfter mit politischen Appellen an die Bürgerinnen und Bürger gearbeitet wird. Probleme werden so an Einzelpersonen outgesourct, die es allein nicht hinbekommen können, aber dauernd diese moralischen Fragen gestellt bekommen: Heizt du etwa? Wie bist du heute hergekommen, Auto oder Bahn? Wie oft isst du Fleisch? Die Menschen werden so nicht unbedingt animiert, sich stärker zu engagieren. Politisch muss es mehr um Strukturen als um Appelle gehen. Wer weiß schon, wie CO2-intensiv Stahl oder Zement ist? Man kauft oder baut halt ein Haus. Der Fußabdruck ist einem an der Stelle gar nicht bewusst. Deswegen ist etwa der CO2-Preis ein Mechanismus, der Kapital dorthin lenkt, wo es am effizientesten eingesetzt wird. Und damit sind wir zurück an dem Punkt, dass »der Staat funktionieren« muss und bei Infrastrukturthemen. Seit man die Bahnstrecke Berlin–München in unter vier Stunden zurücklegen kann, ist der Luftverkehr auf der Strecke stark rückläufig. Einfach, weil es eine einfache und funktionierende Alternative gibt.
Nassehi: Eine Zeitlang haben Leute gedacht, so eine Transformation könne man eigentlich nur, ich übertreibe jetzt mal ein bisschen, autoritär oder diktatorisch machen. Das stimmt nicht. Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck ist dafür ein Beispiel. Er versucht auf der einen Seite immer wieder zu überzeugen, auf der anderen Seite Fakten und Strukturen zu schaffen, in denen das dann auch funktionieren kann. Das ist der Weg.
Frau Neubauer beklagt eine Refossilisierung durch Habecks Arbeit?
Nassehi: Natürlich gibt es Zielkonflikte. Wir kaufen jetzt auch Fracking-Gas aus den USA, das wir selbst nicht herstellen würden. Das ist ein moralisches Dilemma, aber es ist gerade auch eine Notwendigkeit. Wir werden diese vollständig konsistente Lösung nicht hinkriegen. Das ist immer ein »Muddling-Through«.
Bayaz: Habeck geht den Dilemmata und Widersprüchen nicht aus dem Weg, die man jetzt einfach angehen muss, das ist das Entscheidende. In meiner Heimatstadt Heidelberg sitzt der Global Player »Heidelberg Materials«, früher »Heidelberg Zement«. Der Vorstandsvorsitzende hat mir gesagt: »Achtung, ich weiß, schwieriges Thema für euch. Aber wir müssen über CCS sprechen, die Speicherung von CO2 im Boden.« Anfang des Jahres war Habeck in Norwegen, wo CO2 vor der Küste zwischengelagert wird, um darüber zu sprechen.
Sehr unangenehmes Thema für Grüne.
Bayaz: Ja, für die Bundestagsfraktion, der ich angehört habe, war das in der letzten Legislatur noch kein Thema, über das man sich den Kopf zerbrochen hätte. Aber Zement werden wir weiterhin brauchen, und CCS ist eine Brückentechnologie, weil es technologisch eben noch nicht anders geht. Das ist das, was ich unter zukunftsverantwortlicher Politik verstehe.
Es ist ja kein Geheimnis, dass die Bundesgrünen in der Opposition in einer eigenen Welt gelebt haben, wie es nun die abgewählte Union tut. Die beiden haben die Welten gewechselt. Wie kommt das, Herr Nassehi?
Nassehi: Je weiter man von den Entscheidungen weg ist und den operativen Fragen, um so konsistenter erscheint die Welt oder umso konsistenter will man sie haben. Das ist in allen Bereichen so.
Was ist mit unseren schönen Utopien?
Nassehi: Die großen Konzepte, die wir am weißen Blatt Papier produzieren, kann man tatsächlich nur machen, wenn man relativ weit weg vom Machen ist. Gerade die besonders kritischen Milieus sind meist besonders weit weg, weil sie nicht die operativen Probleme lösen müssen.
Bayaz: Hölderlin hat geschrieben, wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Das sollten wir auch mal sehen: Wir sind weg vom russischen Gas, wir können LNG-Terminals in zehn Monaten bauen, wir lösen die Fesseln beim Ausbau der Erneuerbaren, Unternehmen investieren in neue Geschäftsmodelle wie Wasserstoff, Menschen packen sich PV aufs Dach und Wärmepumpen in den Keller. Dazu ist das transatlantische Bündnis zurück auf der Weltbühne und die EU ist geeint wie selten zuvor. Es ist eine unheimliche Dynamik und es braucht daher auch keine Utopien. Es geht doch auch viel voran, worauf wir stolz sein können.
Das Gespräch fand im Professorenbüro von Armin Nassehi in München-Schwabing statt.