Armenien am Brett: Wo Schach die Antwort auf alles ist
Kein Staat fördert das Schachspiel wie Armenien: Fernsehprogramm, Pflichtfach in der Schule und eine eigene Akademie mit 53 Filialen.
Doch Trainer Anastasjan warnt: Die Spieler aus Indien und China seien die härtesten Konkurrenten. Anastasjan ist 52 Jahre alt und er ist der persönliche Trainer vieler Nachwuchstalente. Warum spielen in Armenien so viele Kinder so gut Schach? „Es ist die angeborene Gabe der Natur“, meint Anastajan. „Es ist wie beim Fußball. Wer jeden Tag trainiert, wird trotzdem kein Lionel Messi.“
Anastasjan folgt der sowjetischen Schachtradition und lässt intensiv trainieren. „Schach entwickelt die Logik und das strategische Denken.“ Er hält es für eine gute Alternative zu dem, was er „Smartphonekrankheit“ nennt. Morgens unterrichtet Anastasjan an der Schachfakultät des Sportinstituts in der Hauptstadt Jerewan, am Nachmittag lehrt er im Schachhaus der Stadt. Zusätzlich gibt er noch per Skype Schachstunden, von Montag bis Samstag, sechs Tage die Woche.
Anastasjan ist sich sicher, dass Schach eine Art Label für das kleine Armenien ist. Nicht durch Zufall ist Staatspräsident Serj Sargsjan auch der Chef des Schachverbands. Heute hat das Land 38 Großmeister, 30 Internationale Meister und 18 Fide-Meister. Die Erfolge armenischer Spieler sind seit der Unabhängigkeit des Landes 1991 kaum mehr zu zählen. Die Männermannschaft gewann 2006, 2008 und 2012 bei der Schacholympiade Gold. Bei den Welt- und Europameisterschaften 2011 und 1999 gingen die Armenier als Sieger vom Spieltisch. Nur von den Leistungen der Frauen ist Anastajan nicht so begeistert, die Mannschaft konnte bislang nur die Europameisterschaft 2003 gewinnen.
Zwölf Schachschulen mit 3.000 Schülern allein in Jerewan
Ein entscheidender Schritt der Schachförderung war die Entscheidung der armenischen Regierung, das Spiel 2011 zum Schulpflichtfach der zweiten bis vierten Klasse zu machen. Die Kaukasusrepublik mit ihren drei Millionen Einwohnern war das erste Land der Welt, das das tat. Es gibt spezielle Schulbücher und speziell qualifizierte Lehrer.
Mikayel Andriasjan ist erst 25 Jahre alt und bereits Generalsekretär des Schachverbands. Er erzählt, dass das Schulprojekt sogar ausgeweitet werden soll, ein Curriculum für die fünfte bis neunte Klasse werde derzeit getestet. Für diese Altersstufe werde Schach dann aber ein freiwilliges Angebot sein.
Doch die Schachförderung geht weit über die allgemeinbildenden Schulen hinaus. In Jerewan etwa existieren zwölf Schachschulen, an denen insgesamt etwa 3.000 Schüler unterrichtet werden. Kostenlos. Zwei weitere Schulen werden noch in diesem Jahr eröffnet.
Armenien hat sogar eine Schachakademie, 2002 in Jerewan gegründet. Hier studieren Nachwuchsspieler im Alter von fünf bis 20 Jahren. Die Aufnahmekriterien sind streng, in der Akademie lernen die zukünftigen Medaillenkandidaten bei Nachwuchswettbewerben. Die Akademie hat Filialen in 53 Städten im ganzen Land.
Die Arbeit des Tigran Petrosjan
„Als Kind war ich vom Schach enttäuscht, weil ich nicht so gut wie mein Bruder spielte, der Weltmeister war“, erinnert sich Funktionär Andriasjan. Heute aber koordiniert er die gesamte Arbeit von Verband und Akademie. Sogar einige postsowjetische Länder wie Belarus, Usbekistan und Kirgistan hätten sich an Armenien gewandt, erzählt der Generalsekretär: Sie wollten das armenische Schulschachprogramm nachahmen. Er verweist auf internationale Studien, die ergeben hätten: „Wer Schach spielt, der nimmt keine Drogen.“
Am Anfang des armenischen Schachbooms steht ein Mann: Tigran Petrosjan. Er war sowjetischer Schachgroßmeister und von 1963 bis 1969 Schachweltmeister. Der neunmalige Schach-Olympiasieger, der 1984 verstarb, stand mit der Mannschaft der UdSSR auf Platz eins der Weltrangliste. In Moskau promovierte er in Philosophie über Logik im Schachdenken. Zudem war er Chefredakteur der sowjetischen Schachzeitschrift.
Auch in Deutschland ist Petrosjan bekannt: Sein Buch „Die Schachuniversität“ ist etwa eine Sammlung von Vorträgen zu schachpraktischen Fragen die 1988 in deutscher Übersetzung erschien. Auch Band 26 der „Weltgeschichte des Schachs“ handelt von Tigran Petrosjan. Und in diesen Tagen erscheint das Buch „Tigran Petrosjan: Meilensteine des Schach“, in dem sowohl 70 Partien analysiert und kommentiert werden als auch sein Leben vorgestellt wird.
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Der Name Tigran Petrosjan war in Armenien wie eine Marke, der Großmeister wurde in seiner Heimat als Nationalheld verehrt. Petrosjan legte den ersten Stein des Schachhauses von Jerewan 1967 in einem Park im Stadtzentrum, seit dem Tod des Spielers 1984 trägt das Schachhaus seinen Namen.
Das Gebäude hat eine ungewöhnliche Dreiecksform. Die Fassade ist mit sieben Schachfiguren aus Kupfer verziert. Vor dem Haus steht die Büste des legendären Petrosjan, nicht weit von dort stehen mehrere Bänke und Tische im Park. Es ist ein lebendiger Ort, denn hier, unter den Bäumen, spielen die Einwohner.
„Die Schachwelt“ und „Das Schachtagebuch“
Und zwar wirklich alle: Kinder, Frauen und Männer, Alte und Junge. Sie bestreiten hier Partien gegeneinander oder analysieren berühmte historische Spiele. Im Flur des Gebäudes selbst spielen im Eingang die Senioren. Sie plaudern miteinander und versuchen, gemeinsam neue Strategien auszuklügeln.
Im großen Saal, wo die Turniere ausgetragen werden, herrscht eine konzentrierte Stimmung. Dort hängen Teppiche mit den Motiven des Spiels an den Wänden – schwarze und weiße Figuren, Szenen von Kampf, Sieg, Niederlage und Aussöhnung. Im Zentrum, an der Wand hinter der Bühnen, hängt das goldgerahmte Porträt von Tigran Petrosjan.
Auch das Fernsehen zeigt viel Schach. Der öffentliche Erste Kanal bringt regelmäßig zwei Sendungen über das Spiel: „Die Schachwelt“ und „Das Schachtagebuch“. Und auch die anderen Programme berichten ausführlich über die wichtigsten Ereignisse sowohl in der weiten Welt des Schach als auch über die Entwicklung des Spiels in Armenien. Häufig sind dort Reportagen über den Schachunterricht in den Schulen des Landes zu sehen. Mit praktischen Übungen versuchen die Kommentatoren, mögliche Spielfehler zu erklären und Lösungen vorzuschlagen.
Die Erfolge geben den Anstrengungen recht. Und Aschot Anastasjan, der Trainer mit den vielen Talenten, ist sich sicher: „Die Schacherziehung wird vieles in diesem Land ändern.“
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