Arm gegen Reich in Berlin: Der Reuterkiez wehrt sich
Im neuen Bericht zur Stadtentwicklung gehört das Reuterviertel zu den Schlusslichtern. Tatsächlich aber ist der Neuköllner Kiez nahe Kreuzberg angesagt. Eigentümer werben bereits mit "Kreuzkölln"
Ganz Neukölln ist ein Problemquartier. So steht es im Bericht "Soziale Stadtentwicklung", den Senatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) am Mittwoch vorgelegt hat.
Die jüngste Studie zur sozialen Stadtentwicklung im Auftrag des Senats hat neue Problemgebiete in der Stadt benannt. Sie stellt zudem fest, dass sich auch die bekannten Brennpunkte - mit Ausnahme des Kreuzberger Wrangelkiezes - nicht stabilisieren konnten. Zu diesen Brennpunkten gehört das Reuterviertel in Neukölln, obwohl sich dort seit einiger Zeit viel bewegt. Verantwortlich dafür ist das Quartiersmanagement. Auch die Soziologin Bettina Reimann meint, dass das Viertel an der Grenze zu Kreuzberg gute Chancen hat - trotz der Stigmatisierung im Sozialatlas.
Ganz Neukölln? Ein kleiner Kiez im Norden des Bezirks weigert sich seit langem, als sozialer Brennpunkt abgestempelt zu werden. Nun muss er sich auch noch gegen den Vorwurf wehren, mit seinen jüngsten Versuchen, sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen, keinen Erfolg gehabt zu haben.
Die Rede ist vom Reuterkiez, jenem nördlichen Zipfel von Neukölln, der im Norden an den Landwehrkanal grenzt, im Westen an den Kottbusser Damm, im Süden an die Sonnenallee und im Osten an die Weichselstraße. Im jüngsten Sozialatlas, den der Soziologe Hartmut Häußermann im Auftrag von Senatorin Junge-Reyer erstellt hat, bekommt das Quartier an der Grenze zu Kreuzberg eine "Vier minus". Vier, die niedrigste Bewertung, bedeutet, dass die soziale Lage im Quartier sehr schlecht ist. Und "minus" heißt, dass die Menschen dort nicht auf eine Besserung hoffen können. Im Gegenteil, heißt es im Bericht, die Tendenz sei negativ. Zugenommen habe vor allem die Zahl der Empfänger von staatlichen Transferleistungen. Bei Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren, die von Hartz IV leben müssen, beträgt die Steigerung 4,1 Prozent in den vergangenen zwei Jahren.
Das alles bestreitet Ilse Wolter gar nicht. Dennoch findet sie, dass die Zahlen die tatsächliche Entwicklung im Reuterkiez nicht widerspiegeln. "In den letzten beiden Jahren haben sich bei uns 186 Bewohner als Existenzgründer selbstständig gemacht", sagt Wolter, die zusammen mit Luzia Weber das Quartiersmanagement rund um den Reuterplatz leitet. "Solche Entwicklungen finden sich natürlich nicht wieder, wenn man nur nach Arbeitslosenquote und Transferleistungen fragt."
Positiv ist für Wolter auch der Zuzug von jungen Menschen in den Kiez, unter ihnen viele Studierende. Tatsächlich ist das nördliche Neukölln seit geraumer Zeit zu einem Ausweichquartier fürs zunehmend teure Kreuzberg geworden. Zahlreiche Eigentümer haben den Trend erkannt und werben in Immobilienanzeigen im Internet oder den Tageszeitungen mit "Kreuzberg-Süd" oder "Kreuzkölln".
"In manchen Segmenten wie der 3-Zimmer-Vorderhauswohnung mit Balkon wird es bereits eng", hat Wolter beobachtet. Dennoch glaubt die Quartiersmanagerin nicht, dass die Mieten dramatisch steigen. Um Spekulationen mit Immobilien zu verhindern, will das Quartiersmanagement im nächsten Jahr zusammen mit dem Neuköllner Haus- und Grundbesitzerverband die Eigentümer beraten. Der Grund: Viele Einzeleigentümer sind in dem Alter, ihre Häuser zu verkaufen. Dass die dann in Privatbesitz bleiben und nicht an institutionelle Anleger verscherbelt werden, liegt auch im Interesse des Haus- und Grundbesitzerverbands.
Dass in Neukölln-Nord Bewegung herrscht, ist allerdings unstrittig. Inzwischen haben sogar zahlreiche Galerien zwischen Kanal und Sonnenallee eröffnet. Ermöglicht hat das die Zwischennutzungsagentur, die im Auftrag des Quartiersmanagements Kunst in bisher leer stehende Gewerberäume gebracht hat. Während des alljährlichen Kunst- und Kulturfestivals "48 Stunden Neukölln" gehört der Reuterkiez inzwischen zu den angesagten Adressen der Stadt.
Doch das weckt auch Befürchtungen. Bereits zwei Stadtteilkonferenzen haben sich in diesem Jahr mit dem Thema Aufwertung und Verdrängung rund um den Reuterplatz beschäftigt. Das Ergebnis fiel unterschiedlich aus. Während die Studierenden, selbst Motor der Aufwertung, das Viertel am liebsten im Istzustand konservieren möchten, wünschen sich die 30- bis 40-Jährigen durchaus mehr Szenekneipen und Kultur. Sie erinnern sich noch gut an die Zeit vor der Wende, als der Reuterplatz alles andere war als ein Problemquartier. "Warum sollen wir da nicht wieder hinwollen?", fragte einer auf einer Veranstaltung der Zwischennutzungsagentur im Juni.
Welche Vorstellungen die nichtdeutsche Bevölkerung von der Zukunft des Viertels hat, ist bei beiden Veranstaltungen nicht deutlich geworden. Das Publikum war vorwiegend deutsch und gut gebildet. Für den Stadtsoziologen Andrej Holm ein Hinweis, dass sich der Reuterkietz in einer Phase der "Gentrification im Wartestand" befindet.
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