: Argentinien: Hunger im Land der Agrarexporte
Traurige Bilanz der Wirtschaftspolitik der Regierung Alfonsin / „Austral-Plan“ brachte nur kurzzeitige Entlastung / Banken zahlen nur 100 Mark aus Auslandsverschuldung momentan kein Thema / Exporteure erpreßten Regierung: Dollardevisen zurückgehalten / Kapital ist genug da / „Das ist ja wie in Lateinamerika“ ■ Aus Buenos Aires Harald Paul
Inflationsraten von 20 bis 30 Prozent in der Woche, Zinssätze von 200 Prozent im Monat, eine spektakuläre Flucht in den Dollar, von dem wertmäßig bereits mehr Scheine in Umlauf sind als von der Landeswährung „Austral“ Argentinien hat die Schwelle zur Hyperinflation überschritten. Wer keine Dollars besitzt, muß darben, der in Australes ausgezahlte Lohn schmilzt mit der Inflation innerhalb von Tagen dahin. Die Plünderungswelle in den letzten Tagen ist der Ausdruck realen Hungers.
Selbst die Mittel- und Oberschicht, die in den vergangenen Monaten eifrig mitspekuliert hatte, hat momentan Probleme, an Bargeld zu kommen. Die Banken zahlten in der letzten Woche für Kontoinhaber nicht mehr als 100 Mark aus, die Wechselstuben hatte die Regierung ganz geschlossen. Letztere sind seit einigen Tagen wieder offen, nur wechseln dürfen sie nicht. Den Verkauf von Dollars hat ihnen die Regierung inzwischen verboten, Devisen ankaufen können sie momentan auch nicht, da Austral-Scheine knapp sind. Die Inflation steigt schneller, als neue Scheine gedruckt werden können.
Ein trauriges Ende für die Regierung Alfonsin, die am 14. Mai eine schwere Wahlniederlage erlitt, aber noch bis zum Dezember im Amt bleiben soll, jedenfalls laut Gesetz. Daß sie noch so lange durchhält, daran glauben in Argentinien nur wenige.
Das Erbe der Diktatur
Schon die Bedingungen, unter denen die Regierung Alfonsin angetreten war, konnten nicht gerade rosig genannt werden. Die Militärdiktatur hatte zwischen 1976 und 1983 die Wirtschaftspolitik völlig den mächtigen Verbänden der Industrie und der Landwirtschaft überlassen, deren Repräsentanten in den Ministerien die herrschenden Schichten vertraten.
Die Regierung Alfonsin erbte von den Militärs Auslandsschulden von 46 Milliarden Dollar, wohingegen die Devisenreserven gerade noch 102 Millionen Dollar ausmachten. Die Inflation lag im Dezember 1983 bei 17,7 Prozent und im gesamten Jahr davor bei 434 Prozent. Das Staatsdefizit machte 1983 16,1 Prozent des Brutto-Inlands-Produktes aus und die öffentliche Hand (incl. Staatsbetriebe) hatte bei den Ausgaben einen Anteil von 50,7 Prozent des Bruttoinlandproduktes.
Wie sieht die Bilanz heute aus? Erfolgreich war die Regierung zeitweise beim Senken der Staatsausgaben. Deren Anteil konnte 1988 auf 43 Prozent des BIP zurückgeschraubt werden, das Staatsdefizit auf sieben Prozent Zwischen 1984 und 1988 stieg das Produktionsvolumen in Argentinien immerhin um 5,4 Prozent. Da die Bevölkerung jedoch schneller wuchs, ergibt sich pro Kopf ein Rückgang von zwei Prozent für diese Zeit.
Noch problematischer stellt sich die Situation bei den Auslandsschulden dar. Der Handelsbilanzüberschuß Argentiniens wurde von der Regierung überwiegend zur Zahlung falliger Zinsen verwendet. Zwölf Milliarden Dollar flossen mittlerweile auf die Konten der Gläubiger, womit jedoch nicht einmal die Hälfte der Verpflichtungen abgedeckt werden konnte. Dementsprechend stiegen die Auslandsschulden inzwischen auf 59,5 Milliarden Dollar (Schätzung der Zeitung 'La Nacion‘, 17.5.89). Zusätzlich verschuldete sich der Staat im Inland durch die Ausgabe von Bonds und Wertpapieren (Schätzungen liegen zwischen sechs und zehn Milliarden Dollar).
Tatsächlich sind die Schulden unbezahlbar, für die aktuelle Krise sind sie jedoch nur indirekt verantwortlich zu machen. Vor einem Jahr hat die Regierung Alfonsin den Zinsdienst nämlich so gut wie eingestellt.
Einen Teil der Dollarreserven verschleuderte der damalige Wirtschaftsminister Sourrouille Ende 1988/Anfang 89 auf dem freien Devisenmarkt, um den Dollarkurs niedrig zu halten. Damit sollten die Importpreise und infolgedessen auch die Inflation der argentinischen Währung gedämpft werden, die lediglich 1986, dem Jahr nach der Währungsreform „Plan Austral“ auf zwei Stellen vor dem Komma gesenkt werden konnte. 1988 lag sie wieder bei 387,7 Prozent.
Anfang Februar mußte der Wirtschaftsminister seine Eingriffe in den Devisenmarkt mangels Reserven einstellen. Auf dem freien Markt schoß daraufhin der Dollarkurs in die Höhe, nicht jedoch der „offiziell“ festgesetzte Kurs, der wesentlich die Abrechnungen für die Ex- und Importe bestimmte. Die Exporteure setzten jetzt, um einen besseren Kurs zu erzwingen, die Regierung unter Druck: Sie stellten die Abrechnung der Exportdevisen ein. Wurde bis zum Januar noch für durchschnittlich 600 Millionen Dollar pro Monat an Exporterlösen abgerechnet, waren es im Februar noch 200 Millionen, im März 1989 nur noch 90 Millionen.
Das Ergebnis ist bekannt: Für die Exporteure hat sich die „Operation gelohnt“, nur der „Patient“ ist mittlerweile so gut wie tot. Da die Nachfrage nach Dollars auf dem argentinischen Finanzmarkt durch Importeure und Spekulanten hoch blieb und das Angebot gering, stieg der Dollarkurs weiter. Die Regierung sah sich Anfang Mai gezwungen, den Wechselkurs auch für Ausfuhren völlig freizugeben. Die Exporteure konnten Anfang Mai (Exportsteuer und Inflation bereits abgerechnet) dreimal so viel verdienen wie Anfang Februar.
In der gleichen Geschwindigkeit zogen die Preise auf dem heimischen Markt nach. Mit Inflation und Krise stieg auch die ohnehin hohe Neigung zur Steuerhinterziehung, schon den den ersten drei Monaten gingen die Steuereinnahmen um 42 Prozent zurück. Am Ende der Regierungszeit Alfonsin ist die Situation im Staatshaushalt ebenso trostlos wie die allgemeine wirtschaftliche Lage der Mehrheit der Bevölkerung: Pleite.
Der Bedarf an Grundnahrungsmitteln kann nicht mehr gedeckt werden.
Nach einer Studie des konservativen Wirtschaftsforschungsinstituts „Zentrum für eine neue Mehrheit“, die in den letzten Tagen durch die argentinische Presse ging, lag die Kaufkraft der Durchschnittslöhne in der Dritten Maiwoche 1989 um circa 65 Prozent unter dem Wert von Dezember 1983, als Präsident Alfonsin sein Amt antrat. Der Verfall der Löhne und Gehälter trat vor allem in den letzten Monaten ein. Nach Berechnungen des Instituts mußten die Arbeiter Ende Mai 1989 zweieinhalbmal so lange arbeiten, um sich die gleiche Menge von Waren wie im Mai 1988 leisten zu können.
Der Kaufkraftschwund hat „zum ersten Mal in diesem Jahrhundert die Bevölkerung in eine Situation gebracht, in der sie ihren Bedarf an Grundnahrungsmitteln nicht mehr decken kann“, heißt es in der Studie. Der Grundbedarf einer vierköpfigen Familie lag in diesem Mai achtmal so hoch wie der Mindestlohn.
Bei einer Inflation von ungefähr 100 Prozent im Mai reicht es auch für den Durchschnittsgehaltsempfänger kaum noch für den Kauf von Lebensmitteln. Erst in den letzten Tagen begannen staatliche und private Stellen mit der Verteilung von Grundnahrungsmitteln und mit der Installierung von Volksküchen.
Nicht, daß in Argentinien Kapital fehlen würde. Allein an Dollars zirkulieren circa sechs Milliarden im Land. An argentinischem Kapital im Ausland liegen schätzungsweise 45 Milliarden Dollar. Die einen verdienen halt an der Krise und andere verlieren. Überdeutlich wird das jetzt, was die stolzen Argentinier immer weit von sich gewiesen haben: „Das ist ja hier wie in Lateinamerika!“
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