Archiv der Jugendkulturen: Aus für Szeneforschung

Dem Berliner Archiv der Jugendkulturen droht das finanzielle Aus. Dabei nimmt man Jugendliche dort ernst – ohne pauschales Gejammer über Oberflächlichkeit und Verrohung.

Jugendkulturen wird es immer geben, ihr Archiv in Berlin Kreuzberg aber steht vor dem Aus. Bild: franziska fiolka/photocase

BERLIN taz | Konzentrierte Stille herrscht im Raum, der bis obenhin vollgestopft ist mit Büchern und Zeitschriften. Am Tisch sitzt eine junge Frau und blättert in Büchern über Skinheads. Sie ist extra aus Österreich angereist, um für ihre Diplomarbeit zu recherchieren. Auf dem Boden wühlt sich ein Pärchen im Erstsemesteralter durch einen Stapel Street-Art-Magazine. Eine Grundschulklasse stürmt die Zeitschriftenregale - die Jungs und Mädchen wollen alles über ihre Lieblingszeitschrift Bravo erfahren. Nach der stichprobenhaften Sichtung der Jahrgänge 1956 bis 2010 ("Was, so sah Madonna mal aus?!") ziehen sie beeindruckt von dannen.

Ein normaler Vormittag im Archiv der Jugendkulturen in Berlin-Kreuzberg. Auf 700 Quadratmetern forschen Jung und Alt über die Jugend und können dabei auf rund 6.000 Bücher, 400 wissenschaftliche Arbeiten, 28.000 Zeitschriften sowie unzählige Tonträger, Presseausschnitte und Flyer zurückgreifen. Wer an einer Masterarbeit über malayischen Punk schreibt oder wissen will, ob Black Metal Gefahren fürs Seelenheil birgt, ist hier richtig.

Wie lange noch, ist aber fraglich: Das Archiv steht vor dem finanziellen Aus. Seit zwölf Jahren wurstelt man sich mit Projektgeldern, Spenden und ehrenamtlichem Engagement durch. Monatlich schießen die 28 MitarbeiterInnen nach eigenen Angaben rund 1.500 Euro aus eigener Tasche zu. Eine langfristige Perspektive erhoffen sie sich durch Gründung einer Stiftung: denn Stiftungen bringen Spendern Vorteile und bekommen leichter Fördergelder.

Am Interesse für die Arbeit der Forscher mangelt es jedenfalls nicht. "Es gibt großen Aufklärungsbedarf über die Jugend", sagt Klaus Farin und grinst breit. Der 52-Jährige mit ergrauter Haarmatte und Muskelshirt ist so etwas wie Deutschlands oberster Jugendversteher. Im Gegensatz zu anderen sogenannten Jugendexperten - Soziologen, Kriminologen oder selbst ernannten Trendforschern - bemüht sich Farin um Nähe zu den Jugendlichen, die er erforscht.

Problem: Dem 1998 gegründeten Archiv der Jugendkulturen geht langsam die Puste aus. Seit der Gründung lebt die Kreuzberger Einrichtung von Spenden, ehrenamtlicher Arbeit und Projektmitteln. Unter anderem aus dem Bundesprogramm "Vielfalt tut gut" und der Bundeszentrale für politische Bildung. Institutionelle Förderung gab es noch nie. Nun können die 28 MitarbeiterInnen um den Jugendforscher Klaus Farin den Unterhalt ihres auf 700 Quadratmeter angewachsenen Archivs nicht mehr zahlen: 1.500 Euro zahle man monatlich aus der eigenen Tasche für die Miete drauf.

Lösung: Das Jugendarchiv, das mit seinen 6.000 Büchern und 28.000 Zeitschriften eine weltweit einzigartige öffentlich zugängliche Sammlung besitzt, will eine Stiftung gründen. Mit der Kampagne "Das Archiv geht stiften" sammeln die Macher die notwendigen 100.000 Euro Kapital. Bislang erhielten sie ein Drittel und außerdem jede Menge Untrstützung - unter anderem ausgerechnet von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien. Die ist wahrscheinlich froh darüber, dass die ganzen Black-Metal-Videos, HipHop-Tonträger und Skinhead-Blättchen schön übersichtlich an einem sicheren Ort verwahrt werden. Mehr Informationen über das Archiv und seine Rettung unter www.jugendkulturen.de.

"Der optimale Jugendforscher war selbst mal Teil einer Jugendkultur, hat aber genug Distanz zur Szene aufgebaut, um von außen draufzuschauen", sagt er. Farin war früher Punk - schon während seiner Schulzeit in Gelsenkirchen grub er sich in die Szene ein und hortete mit Forschungseifer sämtliche Hervorbringungen, von Flyern bis zu selbst gemachten Fanzines. Später kamen andere Jugendkulturen dran, Skinheads, Hooligans, Gothics. Als Farin seine Sammlung einer Universität spenden wollte und auf Desinteresse stieß, beschloss er, ein eigenes Archiv für die flüchtigen Gegenkulturzeugnisse zu eröffnen - in Berlin, dem Treffpunkt für alle möglichen Jugendkulturen.

Vielen der 28 zumeist ehrenamtlichen MitarbeiterInnen sieht man ihre Szenezugehörigkeit an: Irokesen, Dreadlocks, Symbole auf Haut und T-Shirts. Monica Hevelke, die BesucherInnen durchs Archiv führt, trägt dicke HipHopper-Turnschuhe zu bunten Tatoos. Die 28-Jährige stieß über das Breakdancen zum Archiv. Jetzt hält sie Jugendgruppen Vorträge über HipHop-Geschichte und berät Pädagogen beim Erstellen von Kursangeboten.

"Ein bisschen Neugier auf andere Szenen muss man mitbringen", sagt sie und zeigt auf das Regal mit den Eigenpublikationen des Archivs: Bücher über Vietnamesinnen in Deutschland, Hausbesetzer in Potsdam, Skinheads. Hevelke hat fast überall mal reingeschaut. Auch ins Schriftgut der rechten Szene, das in einem verschlossenen Schrank lagert und nur für spezifische Forschungszwecke herausgegeben wird. "Ekelhaft", findet Hevelke. Aber: "Man muss doch wissen, worüber man redet - alles andere wäre peinlich."

Wissen, worüber man redet - es ist diese Einstellung, die das Archiv der Jugendkulturen so besonders macht. Pauschales Gejammer über Verrohung oder Oberflächlichkeit der Jugend lässt man hier nicht gelten. Besonders Klaus Farin ist jederzeit bereit, für die Jugendlichen Partei zu ergreifen. "Wir haben die bravste Jugendgeneration seit langem", sagt er und liefert aktuelle Entwicklungen gleich mit: Der Alkoholkonsum stagniere, der Tabakkonsum befinde sich auf einem historischen Tiefstand.

Auch die Jugendkriminalität sei in fast allen Bundesländern rückläufig. Trotzdem begegne man der Jugend mit Skepsis und Repressionen. "Der Umgang mit Jugendlichen wird immer autoritärer", sagt Farin und berichtet von Baggy-Pant-Verboten in Freibädern. In seinen Worten klingt mit: Das hat die Jugend nicht verdient.

Teenager verdienen es, ernst genommen zu werden, das ist das Motto des Jugendarchivs. Ob eine Jugendkultur erst durch die Bravo zum Massenphänomen wurde, wie bei den androgyn auftretenden "Emos", oder ob es wie beim "Parcours" darum geht, über urbane Hindernisse zu hüpfen: Wenn es genug Leute tun und damit öffentliche Aufmerksamkeit erregen, handelt es sich um eine Jugendkultur, die es verdient, erforscht zu werden.

Auch wenn die Szenen immer schneller wechseln - die Motive, sich einer Jugendszene anzuschließen, sind seit der Wandervogel-Bewegung im 19. Jahrhundert gleichgeblieben: Freunde finden, sich gegen den langweiligen Rest der Gesellschaft abgrenzen und zusammen etwas Eigenes schaffen. Gemeinsame Rituale, Mode, Sprache und Musik sind der Kitt dieser Gemeinschaften. Dass die heute weniger langlebiger sind als früher - Jugendliche zwischen 13 und 20 wechseln im Schnitt viermal die Szene - tue dem Gebot, sie ernst zu nehmen, keinen Abbruch, sagt Jugendforscher Farin.

Neben dem Archivieren ist das Vermitteln Hauptaufgabe der Kreuzberger Einrichtung. Workshops für Schulklassen und Projektgruppen, Wanderausstellungen zu Street Art oder den Lebenswelten von Berliner Einwanderern - die Nachfrage ist groß. Auch von Seiten der Polizei: Der jährliche Graffiti-Workshop für Beamte mit anschließendem Expertenrundgang durch Kreuzberg erfreue sich reger Beliebtheit, erzählt Farin. Lehrer und Politiker holten sich ebenso gern eine Portion Sachverstand, um sich auf dem Laufenden zu fühlen. Der Pluspunkt des Archivs - die aktive Beteiligung Jugendlicher - ist zugleich die offene Flanke der Einrichtung, die seit ihrem Bestehen ums finanzielle Überleben kämpft.

Für wissenschaftliche Fördertöpfe sind die Methoden der Jugendforscher zu unorthodox, für die Sozialarbeit zu wenig pädagogikorientiert. Außerdem reden Farin und seine MitstreiterInnen mit allen, ob Skins, Punks, Sprayer oder Hooligans. Das öffentliche Interesse ist aber nicht an allen gleich. Während Geld für MigrantInnenprojekte derzeit leicht aufzutreiben ist, haben es Forschungen im Punkmilieu eher schwer. "Vielleicht sollten wir mehr zu Linksextremismus forschen", sagt Farin sarkastisch und bezieht sich damit auf die derzeitigen Debatten zu autonomer Gewalt und Regierungsprogrammen gegen Linksextreme.

HipHop-Expertin Monica Hevelke sieht ihre Forschungstätigkeit eher pragmatisch. Mit einem Zweitjob und viel finanzieller Bescheidenheit kommt die Slawistikstudentin knapp über die Runden. Dafür hat sie gerade Projektmittel für einen Radio-Workshop mit Jugendlichen genehmigt bekommen. "Wie viel Geld man hat, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist, was Sinnvolles zu tun", sagt sie. Und verschwindet dorthin, wo sich zwischen den "Mitteilungen der Karl May Gesellschaft", einem Berg aus Schülerzeitungen und Magazinen aus der Technoszene noch jede Menge ungeordnetes Archivmaterial stapelt. Es gibt noch viel zu ordnen im Gedächtnis der Jugendkulturen.

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