american pie
: Dramatisches Saisonfinale in der Football-Liga NFL

Delirium der Glückseligkeit

Für die Fans jener Football-Teams, die nichts mehr zu gewinnen oder zu verlieren hatten, war es einfach ein äußerst packendes Finale der regulären Saison mit überraschenden Wendungen, aktionsreichen Dramen und mehr Slapstickeinlagen, als man gemeinhin an einem gewöhnlichen Spieltag in der National Football League (NFL) zu sehen bekommt. Das Dumme war nur, dass es sehr wenige Teams gab, die nichts mehr zu gewinnen oder zu verlieren hatten. Noch zehn Mannschaften kämpften um drei verbliebene Play-off-Plätze, und deren Anhänger erlebten eine Achterbahnfahrt zwischen Triumph und Tragik. Das Ende des Tages sah vor allem die Fans der Miami Dolphins, New Orleans Saints und von Super-Bowl-Champion New England Patriots am Boden zerstört, während jene der Cleveland Browns, Atlanta Falcons und New York Jets zumindest die eine Woche bis zu den Wild Card Games in einem Delirium der Glückseligkeit verbringen werden.

Besonders spektakulär war die Entscheidung in der AFC East Division. Die Miami Dolphins brauchten lediglich einen Sieg bei den New England Patriots und schienen diesen fünf Minuten vor Ende bei einer 24:13-Führung auch in der Tasche zu haben. Doch eine wahre Orgie an kuriosen Ballverlusten, missglückten Kicks, verpatzten Punts, Fehlpässen und dummen Strafen brachte sie um den Lohn aller Mühe. „Wir können die großen Spiele einfach nicht gewinnen“, jammerte Linebacker Zach Thomas, nachdem die Dolphins durch ein Fieldgoal in der Verlängerung doch noch verloren hatten.

Nun lag der Titelverteidiger aus Boston plötzlich vorn, doch auch dessen Freude währte nicht lange. Knapp zwei Stunden später hatten nämlich die New York Jets das Kunststück vollbracht, die bereits qualifizierten Green Bay Packers mit 42:17 abzufertigen und sich anstelle der Patriots für das Wild-Card-Match am Samstag gegen die Indianapolis Colts zu qualifizieren. Dies, obwohl die Jets von den ersten sieben Saisonspielen nur zwei gewonnen hatten. „Das ist eine Saison des Durchhaltens“, sagte Jets-Fullback Richie Anderson, und er sieht keinen Grund, warum man jetzt nicht den Hauptgewinn, die Super Bowl, ins Auge fassen sollte. Der Sieg der Jets war umso bemerkenswerter, als Green Bay durchaus noch etwas zu gewinnen hatte. Statt am nächsten Wochenende frei zu haben, muss das Team um Quarterback Brett Favre nun am Samstag gegen die Atlanta Falcons spielen, außerdem hätten sie sich Heimrecht auf ihrem gefürchteten eisigen Lambeau Field am Michigan-See für die restlichen Play-off-Matches verschaffen können.

Dass Heimspiele nicht unbedingt ein Vorteil sein müssen, erfuhren am Sonntag die New Orleans Saints. Die brauchten, da die Cleveland Browns – am kommenden Sonntag Gegner der Pittsburgh Steelers – Atlanta bezwangen, nur einen läppischen Sieg gegen die in dieser Saison schwachen Carolina Panthers, um die Falcons aus den Play-offs zu drängen, und wurden dennoch von ihrem Publikum konsequent ausgebuht. Vor allem der verunsicherte Quarterback Aaron Brooks bekam den Unmut nach zuletzt zwei Niederlagen gegen niedrig eingestufte Gegner zu spüren. Entsprechend katastrophal spielten er und seine Kollegen, in einem grauenhaften Match verloren sie 6:10. „Wie kann man in einer solchen Situation den eigenen Quarterback ausbuhen?“, schimpfte Safety Sammy Knight und auch Coach Jim Haslett haderte mit den treulosen Zuschauern: „Wenn du zu Hause spielst, versucht die Menge normalerweise, dich zu unterstützen und dir zum Sieg zu verhelfen. Das nennt man Heimvorteil.“

Entsprechend dem chaotischen Saisonverlauf gibt es in den Play-offs keinen klaren Favoriten, zumal die am stärksten eingeschätzten Mannschaften aus Oakland, Green Bay, Philadelphia oder Tampa Bay zuletzt peinliche Niederlagen hinnehmen mussten. „Wir sind kein so starkes Team“, stapelt Brett Favre von den Packers tief, „jeder kann gewinnen“, sagt Rod Woodson von den Oakland Raiders, die ebenso wie die Tennessee Titans, Philadelphia Eagles und Tampa Bay Buccaneers erst in zwei Wochen ins Geschehen eingreifen müssen. Die größte Klappe haben wie üblich die Teams aus New York, erstmals seit 1986 beide in den Play-offs angelangt. Die Giants treten am Sonntag bei den San Francisco 49ers an, und Coach Jim Fasel tönt bereits jetzt: „Es ist erst vorbei, wenn wir sagen, dass es vorbei ist.“ Am besten charakterisiert die ungewöhnliche Situation wohl Safety Sam Garnes von den New York Jets, der Mannschaft, die am knappsten und glücklichsten den Sprung in die Postseason geschafft hat: „Wir sind so gut wie jedes andere Team dieser Liga, wenn nicht besser.“ Genau die Einstellung, mit der letzte Saison ein anderer Underdog angetreten war: der spätere Super-Bowl-Gewinner New England Patriots.

MATTI LIESKE