Hektische rot-grüne Flecken

Die Wahl geriet zum Erweckungsgottesdienst, dem ganz schnell die uninspirierte Langeweile folgte. Inzwischen glaubt das ganze Land an den Weltuntergang. Anmerkungen zum Verlauf eines panischen Wahlabends und einer manischen Depression

von ULRIKE WINKELMANN

So ein Bundestagswahlsonntag ist der Tag, an dem sich Redakteure aus rein privaten Gründen in die Redaktion begeben und in strategisch wohl abgewogener Nähe vor den Fernsehern herumlungern, in Erwartung des magischen Termins: sechs Uhr. Zur Wahl wird die Arbeit so dicht und wichtig, dass sie in Freizeit umschlägt, nein, eine Feierlichkeit, an der alle teilhaben wollen.

Ehemalige Praktikantinnen rufen aus Bamberg an und fragen, ob sie nicht zufällig gebraucht würden. Freunde, die von Beruf Arzt sind, dienen sich als Faxsortierer an, nur um dort zu sein, wo die Wahl Wirklichkeit wird: in einer Redaktion.

Was dann kam, ist bekannt. Keine Ergebnisse um sechs, nicht um sieben, acht oder neun, als der finale Redaktionsschluss heranrückte, dafür Schnittchen, Salat, Bier, Rotwein und totale Verwirrung. Alle Sender sagten was anderes, die Redaktion wusste nicht, was schreiben. Das Hochamt „Wahlberichterstattung“ fiel aus, gefeiert wurde stattdessen eine Art Erweckungsgottesdienst: An irgendeinem Punkt des Abends fühlten alle rot-grün.

„Neiiiiiiin!“, quiekte das SMS der besten Freundin, als Stoiber sich zum Sieger küren ließ. Mails tickerten von Freunden und Verwandten, dass das ja wohl alles nicht wahr sein könne, und wer Schröder schon immer bescheuert fand, hielt ihn plötzlich für einen Himmelsboten, die alberne ewige Hand in der Tasche, die schleppende Redeweise – alles verziehen. Egal, wie knapp der Rot-Grün-Vorsprung ausfallen mochte – wenn es nur ein Vorsprung wäre, oh, eine einig rotgrüne Gemeinde wollten wir sein, eifrig und dienstbar, bescheiden und tugendhaft. Mit den hektischen roten Flecken auf den Wangen sind wir noch ins Bett getaumelt, irgendwann.

Und dann? Ja, was dann. Am nächsten Tag war ja alles klar. Rot-Grün halt. Zweite Legislaturperiode halt. Mühsam unterdrückt die Redaktion das Gähnen. Schröder zufrieden? Ach was. Der soll mal was Neues erzählen. Okay, die Prozenttabellen aus den Wahlkreisen können wir ja noch abdrucken.

So ging es weiter: Koalitionsverhandlungen, Geschacher um Ministerposten, wie viele Frauen ins Kabinett, Ökosteuer wie weiter? Aber hat da ein Hahn nach gekräht? Hat man von dieser Regierung etwas erwartet? Schröder mit seiner in der Hosentasche festgewachsenen Hand, inzwischen lassen sich ja alle so filmen. Und kann der vielleicht mal schneller reden?

Plötzlich war die Krise da. War wohl ein Kollege aus den großen Zeitungen zu viel entlassen worden, was? Die depressive Langeweile verwandelte sich in Pressehysterie, denn Deutschland drohte unterzugehen. Die Zuwanderer, die uns neulich noch das Rentensystem ab 2020 erhalten sollten, wurden auf einmal wieder zu Konkurrenten um den Arbeitsplatz. Dafür war der Kollaps der sozialen Sicherungssysteme bis zum Weihnachtsfest eine ausgemachte Sache.

Wahrscheinlich aber war der Wahlabend schuld: einfach zu viel Nervenstress, zu viele Gefühle. Das musste ja Folgen haben.