Zwischen Kasse und Klasse

aus Berlin HEIKE HAARHOFF

Sich auf 150 Kilo hochfressen und dann das eigene Spiegelbild nicht ertragen können, was?! Nicht mit Johannes C. Bruck. „Es gibt Patienten“, sagt der Chirurg, „die lehne ich ab.“ Solche, die das Operationsergebnis hinterher doch nur mutwillig unterlaufen. Raucher zum Beispiel. Bei denen ist die Wundheilung immer mit Risiko behaftet. „Bei Rauchern operiere ich keinen Facelift“, sagt Bruck. Oder eben die Dicken, die Raubbau an ihrem Körper betrieben haben und deren Fettpolster er absaugen soll. „Mache ich auch nicht.“ Obwohl er sonst vieles macht. Obwohl es finanziell reizvoll wäre. Für die Verwaltung, für das Krankenhaus, für ihn: Johannes C. Bruck, 53 Jahre, ist Chefarzt der Abteilung Plastische Chirurgie am evangelischen Martin-Luther-Krankenhaus in Berlin. Daneben operiert er zweimal wöchentlich in einer Berliner Privatklinik. Er sagt: „Natürlich gibt es eine Zwei-Klassen-Medizin.“

Die ohnehin schon miserablen Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern und Praxen werden sich weiter verschlechtern, die Flucht aus den Gesundheitsberufen wird weiter zunehmen. Damit ist der soziale Frieden in unserem Land in Gefahr, wenn die geplante Minusrunde tatsächlich Gesetz werden sollte. (kursiv gedruckte Textstellen aus einer Pressemitteilung der Deutschen Krankenhausgesellschaft e.V., dem Lobbyverband der öffentlichen Krankenhäuser in Deutschland, zu den von Rot-Grün beschlossenen Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen)

Martin-Luther-Krankenhaus Berlin, ein winterlicher Freitagnachmittag, kurz nach 14 Uhr. Es sieht hier nicht so aus, als sei der soziale Friede gefährdet. Das Wochenende naht. Der dritte Stock des Neubaus ist wie ausgestorben. In ihrem Büro ordnet Brucks Sekretärin noch ihre letzten Papiere und Termine. Eine Stunde später wird nur noch einer die Stellung in der Plastischen Chirurgie halten: Johannes C. Bruck. „So ist das im öffentlichen Dienst“, sagt der Mann im Kittel. „Versuchen Sie mal, eine OP-Schwester nach 16 Uhr zu kriegen.“

3,5 Prozent Gehaltserhöhung haben die Gewerkschaften für Pfleger und Ärzte im vergangenen Jahr ausgehandelt, Überstunden bezahlt, versteht sich. Gut möglich, dass sie im nächsten Jahr eine neue Tarifdebatte gewinnen. Schon jetzt verschlingen Personalkosten 70 Prozent des Krankenhausbudgets. Kürzlich hat der Bundestag beschlossen, dass die Haushalte im nächsten Jahr eingefroren werden müssen. Gleichzeitig sollen die Gehaltsgrenzen angehoben werden, ab denen Patienten die gesetzliche Versicherung verlassen und sich privat versichern dürfen.

Eine doppelte Kürzung also, wenn die Ausgaben bei steigenden Kosten künftig stagnieren und die Zahl der Privatpatienten abnimmt, zumindest aus der Sicht von Johannes C. Bruck: Für ein zwanzigminütiges Beratungsgespräch vor der Operation zahle ihm die private Versicherung 40,22 Euro, die gesetzliche Kasse überweise 85 Cent. Bruck prophezeit mit spöttischem Blick: „Das System steht kurz vor dem Zusammenbruch. Zum Glück werden die Schritte in Richtung Abgrund immer schneller.“

Eine radikale Strukturveränderung, sagt der Arzt, sei unvermeidbar: weg von der gesetzlichen Versicherung hin zu einer minimalen Grundversorgung plus individueller Privatversicherung, bei der jeder die Leistungen festlegt, für die er seinen Körper absichern möchte. „Wie bei einer Autoversicherung“, sagt Bruck. Er findet das gut. Viele seiner Patienten wohl auch. Sie können es sich leisten.

Die plastische Chirurgie, erst seit 1995 innerhalb der Medizin als eigene Disziplin anerkannt, macht vor, was bald auch in anderen Bereichen kommen könnte: jeder bekommt nur so viel medizinische Behandlung, wie er aus eigener Tasche bezahlen kann.

In der Praxis am Martin-Luther-Krankenhaus sieht das so aus: Implantate nach Brustamputation ja, Fettabsaugen an Hals und Nacken nach aidserkrankungsbedingter Fettverteilungsstörung ja, Gesichtschirurgie nach schwerer Brandverletzung ja – die Kasse zahlt, was der Wiederherstellung von Körperfunktionen dient, verloren gegangen durch Krankheit oder Missbildung. Das alles operiert Bruck im Martin-Luther-Krankenhaus. Durchschnittliche Wartezeit: sechs bis acht Wochen. 520 Patienten im Jahr, von denen zur Zeit jeder Fünfte privat versichert ist. Alles weitere ist Verhandlungssache: einen durch Gicht steif gewordenen Finger wieder funktionstüchtig zu operieren, beispielsweise. Da definieren dann die Krankenkassen, was schicksalhaft hingenommen werden muss. „Trichterbrüste und Brustverkleinerungen unter 500 Gramm Übergewicht gelten heute häufig als kosmetische Operationen.“

Das Spardiktat der Bundesregierung bedroht Tausende von Arbeitsplätzen im Gesundheitswesen und gefährdet die Behandlung, Pflege und Betreuung der Patienten. Die Jobmaschine Gesundheitswesen wird abgewürgt, wenn die Vergütung von Apothekern, Ärzten, Zahnärzten und Krankenhäusern drastisch reduziert wird. Zusätzliche Belastungen können nicht mehr aufgefangen werden.

Die Patienten, mit deren Sorgen die Krankenkasse nicht mehr belastet werden kann, nimmt Bruck mit in seine Privatklinik. 200 sind es im Jahr. Chefärzte an öffentlichen Krankenhäusern haben dieses Privileg. Und viele seiner Patientinnen und Patienten nutzen es: 3.000 Euro für die Entfernung so genannter Zornesfalten auf der Stirn, 5.000 Euro für eine Brustverkleinerung, 15.000 Euro für eine Ganzkörperstraffung. Die plastische Chirurgie ist ein Markt, der trotz Budgetkürzungen im Gesundheitswesen boomt.

Endlich, findet Bruck. „In den 50er-Jahren hieß es in Deutschland: Du musst mit deinen Verstümmelungen klarkommen, du musst sie mit Stolz tragen.“ Er hat diese Haltung nie verstanden. Bruck stammt aus Österreich, ging als Schönheitschirurg mit einem Stipendium in die USA, kam 1986 nach Deutschland, wurde erst Chefarzt am Urban-Krankenhaus, später am Martin-Luther-Krankenhaus.

Einige von Brucks dortigen Kollegen, die beispielsweise als Assistenzärzte nicht so einfach an Privatpatienten verdienen könnten, haben die Chance erkannt, die ihnen der Chef bietet: Sie haben sich auf Dreiviertelstellen herabsetzen lassen, um den Rest ihrer Zeit gutes Geld in entspannter Atmosphäre zu verdienen – in Brucks Privatteam. „Einen solchen Markt gibt es für Chefärzte anderer Disziplinen natürlich nicht“, sagt er. Noch nicht.

Was, wenn die Kassenleistungen weiter heruntergefahren, die Budgets weiter abgesenkt werden? Wenn nicht nur krumme Nasen, sondern auch Röntgenuntersuchungen oder Diabetes eine Frage des Einkommens werden?

Schon jetzt gibt es in vielen Bereichen Unterversorgung, weil es an den notwendigen finanziellen Mitteln fehlt. Mit den vorgesehenen Budgetkürzungen werden diese Zustände zementiert und Rationierungen offensichtlich bewusst in Kauf genommen.

Unterversorgung neben Überversorgung. Vor zwei Wochen hat die 33-jährige Hilde Dreyer (die in Wirklichkeit anders heißt) Johannes C. Bruck zum ersten Mal gesehen. Jetzt liegt sie in grüne Tücher gehüllt und in Vollnarkose auf seinem privaten Operationstisch im äußersten Berliner Westen. Der Arzt zeichnet den Verlauf der beiden tiefen Längsfalten auf ihrer Stirn ein, die sie aussehen und glauben lassen, dass sie ständig wütend und damit „entstellt“ sei, und die er nun wegoperieren wird. Hier gibt es keine Hektik. Hier ist niemand, der draußen drängelt, dass die drinnen im OP mal fertig werden, weil noch andere Patienten warten. Hier ist Zeit. Sogar für Erklärungen und Späße. „Haben Sie Karl May gelesen?“, fragt Bruck seine Kollegen. „Dann wissen Sie, was ein Skalp ist.“

Bruck macht sich ans Werk. Mehrere zusätzliche Betäubungsspritzen in die Stirn. „Damit sie nach dem Aufwachen schmerzfrei ist. Das gibt’s bei Kassenpatienten auch nicht unbedingt.“ Die Stirn schwillt an. Drei kleine Schnitte am Kopf parallel zum Haaransatz. Er führt das Endoskop unter die Haut, mit dem er später den Muskel herausschneiden wird, der für die Falten verantwortlich ist, lockert die Haut, löst sie ein wenig vom Schädelknochen. Auf dem Bildschirm verfolgt er, wie die Sonde sich vorarbeitet. Nach einer guten Stunde sind die Falten geglättet, die Schnitte genäht.

Als die Patientin aufgewacht ist, kann sie das Ergebnis unter den Kopfverbänden noch nicht sehen, ist aber trotzdem erleichtert. Seit Jahren wollte sie die Operation. Nie passte es. Der Job, dann die Ausbildung zur Internet-Applikations-Entwicklerin. Jetzt ist sie auf Arbeitssuche. Ohne Zornesfalten rechnet sie sich bessere Chancen aus. „Ich hoffe, dass es im Januar klappt. Dann ist bestimmt auch alles verheilt.“

Es geht nicht allein um unsere Jobs, die auf der Kippe stehen. Es geht um die Qualität der Versorgung, die auf dem Spiel steht. Es geht um menschenwürdige Verhältnisse im Gesundheitswesen.

Johannes C. Bruck braucht keine Bedenken hinsichtlich menschenwürdiger Verhältnisse zu haben. „Ich wehre mich dagegen“, sagt er, „dass wir in der Öffentlichkeit häufig immer noch als Schönheits-Willis abgestempelt werden.“ Das hat er auch vor ein paar Wochen gesagt, als sich im Hörsaal der Berliner Universitätsklinik Charité ein knappes Dutzend plastischer Chirurgen der Hauptstadt zu einem Symposium einfanden. Es könne schließlich nicht angehen, sagte Bruck da, dass sich jeder dahergelaufene niedergelassene Arzt nach einem Wochendseminar Faltenwegspritzen „das Taferl kosmetischer Chirurg“ an die Tür pappe. Im Interesse der Patienten, hieß es auf dem Symposium. Vom Interesse des Facharztes war nicht die Rede.