WIR: HIER

Letztes Kapitel

Das Konzert war zwei Wochen vorbei. Cems Familie bezahlte den Kredithai, aber Frau Demir bestand darauf, das Konzertgeld zurückzugeben. „Wir danken euch sehr für eure Hilfe, doch das Geld ist nur geliehen.“

Sein Vater war letzten Freitag aus dem Gefängnis entlassen worden und hatte den ersten Flug am Samstagmorgen zurück nach Berlin gebucht. Er sah dünn aus, hatte Cem erschrocken bemerkt, als er ihn umarmte. Als wäre sein Körper zu klein für den Anzug geworden, so fühlte es sich an. Nachdem der Vater sich ausgeruht hatte, ließ er sich alle Einzelheiten des Konzerts berichten.

„Wie sollen wir das jemals wieder gutmachen, Cem? Wir stehen tief in der Schuld deiner Freunde.“ Frau Demir lachte, so wie sie die ganze Zeit lachte, seit ihr Mann zurück war.

„Wir laden sie alle ein. Alle Goldstücke, und die Menschen, die ihnen geholfen haben. Wir feiern ein Fest. So machen wir das. Und ihr bringt eure Eltern mit.“

Matteo sah Laura an. Er wusste, dass seine Mutter Katja mitbringen wollen würde und das war ihm zu viel. Viel zu viel. Auch Laura gefiel die Vorstellung nicht. Ihre Mutter würde alles wunderbar finden, und danach über das Leben „dieser einfachen, unverbildeten Menschen“ schwärmen, das wäre nur peinlich.

„Müssen wir unsere Eltern mitbringen? Die haben eigentlich nicht viel damit zu tun, Frau Demir.“

Die sah in die Gesichter der beiden und schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Nicht alle Familienmitglieder gefallen einem. Nicht wahr?“ Sie stieß Cems Vater an. „Ja, mein Schatz, da hast du wohl Recht. Jede Familie ist kompliziert und manchmal ist es besser, dem aus dem Weg zu gehen.“

Eine Woche später saßen alle im Wohnzimmer der Demirs. Herr Demir bedankte sich so oft, bis Cem rot wurde. „Baba, jetzt ist gut. Hauptsache, du bist zu Hause.“ Sie stießen abwechselnd auf seine Heimkehr, auf Goldstück und die tote Oma an.

Beim Essen kam Jörg auf eine Idee: Wenn die Familie das Geld zurückzahlen wollte, könnten sie jemand anderen, der in einer ähnlichen Situation steckt, damit helfen. Er würde sich umhören, wie man das organisiert. Ein Verein? Eine Stiftung? Wird man sehen.

„Das ist“, sagte Szusza, der der Raki im Kopf herumtanzte, „das ist wie bei einer Organspende.“

„Häh?“

„Na, aus einem einzigen Menschen werden viele.“

Frau Demir nahm Szuszas Hand in ihre. „Du bist ein kluges Mädchen. Aus dir wird mal etwas ganz besonders.“

Szusza lehnte sich an ihre Schulter und nickte. „Ich weiß. Ich werde Sport und Jura studieren und dann …“ Dann schlief sie ein.

Es gab noch eine Sache, die Laura gemeinsam mit den anderen zu Ende bringen wollte. Sie hatte sich den Treffpunkt genau überlegt.

„Heute um sieben auf dem Anhalter Steg.“

„Laura, ist das schon wieder eines deiner Solo-Projekte?“

„Richtig. Und ihr müsst mitmachen.“

„Na gut, ausnahmsweise.“

Der Anhalter Steg verband ein Museum auf der einen Seite mit dem Gelände des Anhalter Bahnhofs auf der anderen und führte über den Landwehrkanal und eine sechsspurige Straße. Es war eine hässliche Fußgängerbrücke aus grauem Beton, gelben Backsteinen und rot angemaltem Stahl. In riesigen Lettern stand auf der einen Seite ANHALT und auf der anderen BERLIN. Über der Brücke lief eine Stahltrasse für die U-Bahn. Es gab keinen Grund die Brücke zu benutzen, wollte man auf die andere Seite, ging man über die Straße.

„Was sollen wir hier, Laura? Es ist kalt. Es regnet.“

„Ich musste erst auf Google Earth gucken, wo dieser blöde Steg überhaupt ist. Wenn du einen hässlichen Ort gesucht hast, hätten wir uns am Innsbrucker treffen können.“

Unter Ihnen rauschte der Feierabendverkehr durch den regnerischen Frühabend. Lichter spiegelten sich auf dem träge dahinfließenden Wasser. Regen tropfte in den Kanal.

Laura zog aus ihrer Tasche vier Piccoloflaschen Sekt und drückte jedem eine in die Hand. Dann griff sie nach dem Bunker-Kästchen, öffnete den Deckel und nahm den Orden in die Hand.

„Der, dem das hier mal gehörte, den sollte man vergessen. Er fand die ganze Nazischeiße richtig und hat mitgemacht. Sonst hätte er keine Auszeichnungen bekommen. Egal was wir damit tun, es würde ihn wichtig und unsterblich machen. Und darum finde ich, diese Erinnerungen an ihn“, sie hielt das Kästchen hoch „die gehören genau in den Kanal, der damals gesprengt wurde. Und ja, ich habe es gefunden und darum bestimme ich auch! Aber ich möchte genauso gerne, dass wir das zusammen machen.“ Sie drückte Cem den Orden, Szusza das Abzeichen und Matteo das Kästchen in die Hände. Für sich behielt sie die Murmel, kniff ein Auge zusammen und blinzelte durch das Glas aufs Wasser. „Seid ihr dabei?“

„Es soll untergehen wie die Nazis.“

„Für immer im Modder von Berlin. Da gehört es hin.“

„Nicht ins Museum oder zu einem Militaria-Wichser.“

„Auf drei! Eins … zwei … drei!“

In hohem Bogen schmissen sie die Sachen von sich und schauten zu, wie sie vom Wasser verschluckt wurden. Nur das Kästchen blieb noch einen Moment an der Oberfläche, schaukelte auf den dunklen Wellen, ein Abschiedsgruß, bevor es Schlagseite bekam und mit einem leisen Glucksen verschwand. Szusza spuckte ins Wasser. Ihre Spucke schwamm auf kleinen Wellen fort.

„Ich hab übrigens einen neuen Song geschrieben.“

„Sing mal an.“

Matteo räusperte sich. „Na gut, erste Strophe, aber nicht lachen.“

„Über uns sind immer Sterne

ob du sie siehst oder nicht

Hinter uns steht weite Ferne

doch vor uns leuchtet Licht

wir strahlen darin so hell

wie ein Komet

für einen kurzen Moment

sind wir: hier“

Sarah Schmidt, publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman: „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist im Verbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigen Verlagen 2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de