„Manchmal habe ich das Gefühl, der letzte Mohikaner zu sein“

DER BODENSTÄNDIGE Fast 20 Jahre lang saß Wolfgang Wieland im Abgeordnetenhaus und erlebte, wie sich Grüne und taz gegenseitig inspirierten und bekämpften. 20 Jahre, in denen unsere taz-Redakteurin Plutonia Plarre den Lokalpolitiker regelmäßig zu innenpolitischen Themen befragte. Ein Glas Wein waren sie trotzdem nie trinken

„Ich kann doch nicht zusehen, wie der Görlitzer Park der Bevölkerung von den Drogenverkäufern weggenommen wird“

INTERVIEW UWE RADA
UND BERT SCHULZ
, FOTOS WOLFGANG BORRS

taz: Herr Wieland, im Herbst nächsten Jahres sind Abgeordnetenhauswahlen in Berlin. Die Grünen konnten bislang nicht davon profitieren, dass die Stadt seit 2011 von einer Großen Koalition regiert wird.

Wolfgang Wieland: Ich habe mir das hehre Ziel gesetzt, nicht als der Weise vom Berg herabzusteigen und zu kommentieren, was die Grünen machen.

Klaus Wowereit ist weg – das wäre doch eine Chance!?

Wie werden es gegen Michael Müller schwerer haben als gegen Wowereit, der den Flughafen am Hals hatte. Müller ergreift seine Chance, sich als der ehrliche Arbeiter zu präsentieren.

Was setzen die Grünen dem entgegen?

Wir müssen aus dem letzten Wahlkampf, dem Prinzessinnen-Wahlkampf …

mit der Spitzenkandidatin Renate Künast …

… lernen, dass es auf Themen ankommt. Und zweitens, dass es auf ein Team ankommt. Beides muss überzeugen. Also nicht nur die Aussage „Ich kann es besser“. Und bitte nicht wieder ein Thema wie die A 100, wo wir uns als eine Ein-Punkt-Partei erwiesen haben. Die Stadt wollte Rot-Grün, und wir konnten uns an dem Punkt nicht einigen.

Springen wir etwas weiter in die Vergangenheit. Die taz ist zur gleichen Zeit entstanden wie die Alternative Liste (AL), die Vorläuferin der Grünen. Was macht die taz besser?

Es gab Zeiten, da hab ich immer gesagt: Die taz macht einen besseren Lokalteil als wir, also einen besseren Journalismus, als wir Politik machen. Manchmal war es aber auch andersherum.

Wann waren wir besser?

Mitte der 90er Jahre. Da gingen bei uns viele weg in die Bundespolitik, und die taz war ein Forum für viele Zukunftsfragen: Wie weiter mit der Stadt? Wie wollen wir leben? Solche Fragen. Aber es stimmt schon: Diese special relation ist da zwischen taz und Grünen.

Zu dieser special relation gehört unsere Polizeireporterin Plutonia Plarre, die an diesem Samstag ihren 60. Geburtstag feiert.

Da gratuliere ich. Es ist aber nicht so, dass wir beide eine special relation gehabt hätten.

Sie hatten mit Plutonia Plarre keinen Kontakt, der über das Berufliche hinausging?

Bei Plutonia war es immer rein dienstlich.

Wirklich? Immer, wenn eine politische Frage offen blieb, schlug Plutonia in der Redaktionskonferenz vor: „Da müssen wir ein Interview mit Wieland machen.“

(lacht) Gut, dass sie weiß, dass ich zu allem etwas sagen kann. Aber wir hatten natürlich über die Jahre hin diese thematische Überschneidung: Innenpolitik, Justiz und Knast. Jeden 2. Mai habe ich mich gefragt: „Was fehlt heute eigentlich noch? Ach ja, der Anruf von Plutonia.“ Der kam dann wie das Amen in der Kirche, weil ja auch an jedem 1. Mai über 20 Jahre lang Randale gewesen ist.

Erinnern Sie sich noch an Ihre erste dienstliche Begegnung mit ihr?

Nein. Mein Eindruck ist eher: Plutonia war schon immer da. Für mich gehört sie zur Gründungsbelegschaft der taz. Plutonia ist bei euch die Konstante, die von Anfang bis jetzt beharrlich über ihre Themen berichtet.

Im Grunde stehen auch Sie für diese Kontinuität. 1987 zogen Sie ins Abgeordnetenhaus ein, wo Sie bis 2004 geblieben sind. Gibt es so etwas wie den Glamour des Lokalen?

Gibt es! Berlin ist eine ganz besondere Stadt. Das war sie schon immer. Ich bin hier in Berlin geboren, in Frankfurt am Main aufgewachsen, und kam als Student dann wieder zurück. Seit dem 2. Juni 1967 …

dem Tod von Benno Ohnesorg …

… habe ich 20 Jahre lang auf keiner Demonstration gefehlt. Berlin ist nicht nur spannend. Es ist auch eine Stadt der Avantgarde. Eine Stadt, in der andere Lebensstile ausprobiert werden. Das ist bis heute so.

Auch das ist eine Parallele zu Plutonia, die immer in der Berlin-Redaktion gearbeitet und nie den Ehrgeiz entwickelt hat, in die überregionale taz zu wechseln. Haben Sie sich denn nie gedacht, ich bin der Einzige, der den Absprung nicht schafft?

Das Gefühl, der letzte Mohikaner zu sein, ist manchmal da. Das Gefühl, ich hätte auch mal Parteivorsitzender werden können, ist dagegen nicht da. Karriere ist nicht so mein Ding. Da unterscheide ich mich von einigen bei den Grünen.

Was hat Sie dazu bewogen, Innenpolitiker zu werden?

Das hing mit meinem Beruf zusammen. Als Anwalt bin ich sehr schnell auf bestimmte Themenfelder gestoßen, weil sie einfach bearbeitet werden mussten. Das waren die sogenannten Terrorismusverfahren, wo ich als junger Anwalt gleich die Verteidigung von Fritz Teufel von der Bewegung 2. Juni übernommen habe. Und irgendwann habe ich festgestellt, dass es zu viel ist, wenn man als Anwalt arbeitet, um 18 Uhr die Mandanten empfängt und dann immer zu spät um 21 Uhr zu politischen Sitzungen erscheint. Mitte der der 80er Jahre habe ich das also umgedreht und die Politik zur Hauptbeschäftigung gemacht.

Wie war damals Ihr Verhältnis zur taz?

Das war eine geschwisterliche Beziehung. Manchmal auch eine eheliche. Eine unserer Abgeordneten war mit einem tazler verheiratet. Die taz hatte damit die Möglichkeit, ganz direkt unsere Politik zu beeinflussen. Das tat sie auch. Auf der anderen Seite gab es eine übergroße Distanz. taz-Mitgründer Max Thomas Mehr hat das mal so ausgedrückt: „Wir sind nicht die Prawda der AL.“ Es gab von uns auch Bestrebungen, zum Telefonhörer zu greifen und beeinflussen zu wollen, was in der taz steht. Geeint hat uns das Gefühl: Wir sind die Bewegungspartei, und die taz ist die Bewegungszeitung.

Hat denn Plutonia auch bei Ihnen angerufen und gefordert: „Die Geschichte musst du aber uns als taz exklusiv geben?“

Sicher. Da war sie keine Ausnahme. Wenn wir was exklusiv hatten – sei es über Nazis in der Freiwilligen Polizeireserve oder Polizeiübergriffe – dann wollte sie das haben. Und wenn wir es – was ab und an vorkam (lacht) – einer anderen Zeitung gegeben haben, dann hat sie mich das deutlich spüren lassen.

Wie ist heute das Verhältnis zwischen Politikern und Journalisten?

Deutlich professioneller. Keiner käme heute auf die Idee, die taz für unsere Parteizeitung zu halten.

Wann begann diese Professionalisierung?

Die Professionalisierung der taz ist ein kontinuierlicher Prozess.

Wie bei den Grünen.

Die professionelle Distanz stellte sich im Laufe der Jahre ein. Eine Zäsur war für mich, als mich taz-Journalisten zum ersten Mal gesiezt haben.

Wer war das?

Severin Weiland und Dirk Wildt, damals, Mitte der 90er, Rathausreporter. Ich dachte mir: „Aha, da ist eine neue Zeit angebrochen.“

Nun gab es ja auch einen Wandel in der Wahrnehmung der Polizei. Wann hat das denn bei Ihnen angefangen, dass Sie gedacht haben, da kann man auch mal loben, ohne immer nur zu kritisieren?

Da musste sich die Polizei auch erst mal ändern. Neulich habe ich auf dem 80. Geburtstag von Georg Schertz, dem ehemaligen Polizeipräsidenten, die Laudatio gehalten. Ich habe gesagt: „Herr Schertz, am Anfang haben wir Sie für die Abriegelung von Kreuzberg während des Reagan-Besuchs 1987 und die Prügeleinsätze der Sondereinheit EBLT scharf kritisiert. Daran ist auch nichts zurückzunehmen. Aber es gab auch zu loben, etwa beim Managen des Zusammenwachsens der Polizei nach der Wiedervereinigung.“

Dass sich die Polizei verändert hat, ist auch Ihr Verdienst?

Zumindest gab es unzählige Diskussionen mit Polizeiführern über bestimmte Einsätze. Da ist im Laufe der Zeit meine Kritik fokussierter geworden. Andererseits habe ich auch Anerkennung geäußert.

Diesen Lernprozess gab es auch bei der taz.

Die taz hat lange Zeit das Bild transportiert: Ohne Bullen kein Krawall. Das stimmte nicht immer.

Nach dem Attentat auf Charlie Hebdo in Paris bekam die taz Polizeischutz und unsere Chefredakteurin Ines Pohl hat den Polizisten Kaffee gebracht. Auch das Verhältnis von Plutonia Plarre zur Polizei hat sich verändert. War das für Sie überraschend, dass gerade eine taz-Reporterin so vorzügliche Kontakte in Polizeikreise hat?

Nein.

Die Polizei ist ja noch immer ein Männerverein. Hat es eine Frau da als Journalistin einfacher?

Es hat bestimmt dem einen oder anderen Beamten geschmeichelt, wenn da eine freche, junge Reporterin von der taz kam. Aber irgendwann, so Mitte der 90er Jahre, war sie natürlich etabliert. Bei uns Grünen hat das auch so lange gedauert.

Hat diese Unbefangenheit zwischen Polizei und taz auch damit zu tun, dass es für die Polizei angenehmer ist, mit der taz zu sprechen als mit vermeintlich polizeifreundlichen Blättern – weil die taz seriöser ist?

Das ist bei den intellektuelleren Teilen der Polizei sicher so. Aber die Polizei ist nach wie vor keine wissenschaftliche Veranstaltung. Gleichzeitig wundert man sich schon, wenn man heute die Bereitschaftspolizei sieht: gleich viel Männer und Frauen, gestylt. Da fragt man sich manchmal, ob das Komparsen sind. Früher gab es eine Bereitschaftspolizei, da hatten manche den Spitznamen Schweinebacke – und man sah sofort, warum.

Sagen Sie denn noch „Bullen“?

Ich habe schon lange nicht mehr „Bullen“ gesagt. Ich hatte da immer eine Doppelstrategie: Ich selber sage das nicht; sage der Polizei aber auch, dass sie da nicht so empfindlich sein soll. Aber auch bei den Grünen musste ich manchmal sagen: „Ihr müsst nicht immer eurer Mütchen bei den angeblichen Bullen kühlen.“ Auch da war die taz manchmal weiter als die Grünen.

Auch dank Plutonia Plarre.

Natürlich hat sie scharf gefragt. Sie ist auch oft emotional. Aber in den Fakten übertreibt sie nicht. Man kann sich auch immer darauf verlassen, dass die Zitate, die sie bringt, stimmen. Bei allem Engagement, das man ihr ansah, auch in manchen hektischen Bewegungen …

Ein Beispiel bitte.

Ich erinnere mich an die Rasterfahndung nach dem 11. September 2001, wo sie mir als Justizsenator auch mit dem Mikrofon auf den Pelz rückte. Ich hab ihr gesagt, dass diese Entscheidung am Justizsenator vorbeigegangen sei. Aber das wollte sie nicht glauben. Da wollte sie in aller Schärfe ran, in der Sache zu Recht, weil es ja auch ein Unding war. Aber auch in solchen Situationen, wo man förmlich gespürt hat, dass sie kocht, konnte man sich darauf verlassen, dass der Text korrekt war.

Kann man mit Innenpolitik und Law and Order heute noch Wahlen gewinnen? Oder macht man, egal welcher Partei man angehört, ohnehin eine pragmatische Innenpolitik?

Wenn ich für die Grünen spreche, kann ich noch nicht einmal die Frage beantworten, ob wir je mit unserer liberalen Innenpolitik Wahlen gewonnen haben. Wir sind als AL und Grüne eher mit den sympathischen Themen gewachsen, also Umwelt, gesunde Ernährung, Atomausstieg.

Heißt das im Umkehrschluss, dass die CDU mit einer repressiveren Innenpolitik nach wie vor punkten kann?

Ja, das ist meine Überzeugung. Auf dieser Seite des politischen Spektrums funktioniert das. Die CDU hat zwar nicht mehr solche Kaliber wie Heinrich Lummer aufzubieten. Aber sie weiß, dass sie dort, wenn es sein muss, auch andere Töne fahren kann.

Von welchem Kaliber ist der CDU-Innensenator und mutmaßliche Spitzenkandidat seiner Partei, Frank Henkel?

Henkel entzieht sich jeder rationalen Erklärung. Er blinkt mal rechts und kündigt an, den Oranienplatz räumen zu wollen. Und dann lässt er sich stoppen. Lummer hätte da geräumt, und zwar sofort. Nach Polizeigesetz. Und nicht nach Grünanlagengesetz, das Henkel bemüht hat.

Was will Frank Henkel?

Ein klarer Kurs ist nicht zu sehen. Was am Görlitzer Park läuft, ist völlig hilflos. Ich jogge da regelmäßig. Die verstärkte Polizeipräsenz hat am Drogenhandel überhaupt nichts geändert. Auch nichts daran, dass es für Eltern schwierig ist, diesen Park zu benutzen. Er sieht zu, wie ein Park, der der Kreuzberger grünen Aktivität entsprungen ist, zugrunde geht. Damit kann man nicht seinen Frieden machen. Da müsste man als Innensenator mit dem Bezirk ein integriertes Sicherheitskonzept vorlegen.

Mit welchem Ziel?

Im Görlitzer Park den Drogenverkauf zu verhindern.

Ein Grüner fordert eine polizeiliche Lösung am Görlitzer Park?

Das muss ja nicht gleich einen brachialen Polizeieinsatz bedeuten. Ich kann so einen Platz auch mit Personalkontrollen unattraktiv machen. Auch für Käufer. Das muss keine Polizeifestung werden. Aber ich signalisiere, wer dahin geht, um sein Dope zu kaufen, ist am falschen Ort und muss damit rechnen, dass es auch Folgen für ihn hat.

Der Drogenhandel zieht dann einfach woandershin.

Geb ich zu. Natürlich fordern wir weiterhin den legalen Verkauf. Aber wann kommt die Legalisierung? Ich will aber einen Park, der unzumutbar belastet ist, jetzt entlasten. Ich weiß, dass ich damit das Drogenproblem insgesamt nicht löse. Ich kann aber auch nicht zusehen, wie ein Park der Bevölkerung weggenommen wird.

Zum Schluss noch einmal zum Wahlkampf: Die grüne Prinzessin ist gescheitert, der rote König ist vom Hof gejagt. Heißt das, dass mit Michael Müller und dem Team, das die Grünen aufstellen werden, auch der Glamour des Lokalen wieder verschwinden wird?

Ich hab überhaupt nichts gegen ein bisschen Glamour. Als Berlin noch geteilt war, hat der Regierende Bürgermeister regelmäßig Staatsgäste empfangen. Da war der Glamour-Faktor hoch. Als dann die Bundesregierung nach Berlin kam, war die Berliner Lokalprominenz zweite Geige. Die Stadt aber hat gewonnen. Und Glamour hat ja nicht automatisch mit Politik zu tun. Es kann ja auch intellektueller und kreativer Glanz sein.

Welchen Ratschlag würde der grüne Weise vom Berg denn der taz geben?

Leute, das soll jetzt nicht so großväterlich klingen. Und natürlich ist vieles auch zeitgeistgebunden. Aber ein wenig könntet ihr wieder zu eurer alten Aggressivität und Spritzigkeit zurückkehren. Die Wildheit und das Verrückte. Ich weiß, dass man einen Wilden und Verrückten nicht als Senator will. Aber bei der taz wäre da ein bisschen mehr möglich.

Wann erwarten Sie den nächsten Anruf von Frau Plarre?

Wahrscheinlich ruft sie an, wenn dieses Interview erschienen ist. Und dann gehen wir endlich ein Glas Wein trinken.