Aufbruch hinter dem Vorhang

CHRISTO UND DIE FOLGEN Im Sommer 1995 war in Berlin richtig was los. Der Reichstag wurde verhüllt, Berlin war im Rausch und der Zukunft zugewandt. Auch die Rolle der Kunst im öffentlichen Raum änderte sich: Christo und Jeanne-Claude – das war der Beginn der Public Events

VON ROLF LAUTENSCHLÄGER

Im Deutschen Bundestag denkt man derzeit öfter an die Reichstagsverhüllung von Christo und Jeanne-Claude, als es den Parlamentariern lieb ist. Am besten, wir packen das ganze Haus ein, dann fließen keine Datenströme mehr aus den Computern nach draußen, überlegen sich so manche. Weil wochenlang das bundestagseigene Netzwerk digital attackiert wurde, ist die Sehnsucht nach Christo und Jeanne-Claude groß.

Viel lieber würde man im Bundestag natürlich vom ersten „Sommermärchen“ in Berlin sprechen. Gemeint ist jenes, als im Juni 1995 5 Millionen Besucher Tag und Nacht auf die Wiese vor dem Reichstag zogen und den hell schimmernden Gewebekasten bestaunten.

„Wrapped Reichstag“ von den beiden New Yorker Künstlern war ein Kunstwerk und mehr: Der silbrige Meteorit mit einer Oberfläche von gewaltigen 100.000 Quadratmetern, der im Parlamentsviertel gelandet schien, war ein Naturschauspiel, eine Sensation, ein öffentliches Event. Christos temporäre Verhüllungsaktion, die dem grauen Bauwerk aus dem 19. Jahrhundert nach der Enthüllung im Juli symbolisch die demokratische Neugeburt ermöglichte, verwandelte auch die Berliner. Nach dem Happening waren sie nicht mehr Bolle, sondern welche, denen die Zukunft gehörte.

Auch 20 Jahre nach der Reichstagsverhüllung wird darüber gestritten, ob das nun Kunst oder Kitsch im öffentlichen Raum war, ob die Verpackung eine politische Intention verfolgte oder nur zum Public Event taugte und ob sich Berlin dadurch wirklich verändert hat. Sicher ist, dass Christo und Jeanne-Claude ein klares Konzept über Jahre verfolgt hatten, das dem Reichstag durch die temporäre Kunstaktion eine neue ästhetische Dimension verlieh. Richtig ist auch, dass die Rolle der Kunst im öffentlichen Raum, wie etwa Leonie Baumann, Rektorin der Kunsthochschule Weißensee, meint, sich nach Christo in zwei Richtungen entwickelt und erweitert hat. Ungewöhnliche städtische Freiräume, die überraschend und fantasievoll mit Aktionen oder Installationen genutzt werden, wie auf dem Tempelhofer Feld oder während der Berlin Biennale, sind aufregende Beispiele neuer Kunst im öffentlichen Raum. Leider werden solche Freiräume immer weniger und sind schwerer bespielbar.

Umgekehrt hat die Reichstagsverhüllung die Kulturmacher Berlins zwei Dinge gelehrt: Ein Public Event im Kontext der Stadtgeschichte inszeniert, siehe „Lichtgrenze“ zum Mauerfalljubiläum, ist zwar nicht unbedingt Kunst, verkauft sich samt Berlin aber sehr gut. Und dass im Windschatten Christos und der Festivalisierung des öffentlichen Raums noch tausend Kommerzveranstaltungen wie die Loveparade, Fanmeilen oder die MoMAs hinterherkommen, schadet der Stadt auch nicht.

Wie die Verhüllung die Rolle der Kunst im öffentlichen Raum änderte SEITE 44, 45