WIR: HIER

32. Kapitel

Szusza bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken, gleich auf die Bühne zu steigen

Als Szusza, die nach dem Soundcheck am nächsten Nachmittag noch eine große Runde durch den Volkspark gejoggt war, um ihr Lampenfieber in den Griff zu bekommen, zurück zum Innsbrucker Platz kam und die Treppen zum U-Bahnhof runterlief, stand eine lange Schlange von Wartenden an der Kasse. Jedes Mal, wenn eine U-Bahn einfuhr, schauten die ausgestiegenen Leute, verwundert zu der unscheinbaren Tür, die zu dem verborgenen Bahnsteig führte. Viele blieben stehen und fragten, was los sei, sie lasen interessiert die Info-Flugblätter und ein paar von ihnen entschieden spontan dazubleiben, andere ärgerten sich kopfschüttelnd über das ungewohnte Treiben und schimpften, weil sie um die Warteschlange herumgehen mussten.

Szusza lief mit federndem Schritt auf den Kassentisch zu.

„Wir haben bis jetzt 120 Karten verkauft. Und guck dir an, wie viele noch reinwollen. Wahnsinn!“, flüsterte ihr Mara, die die Eintrittskarten verkaufte, zu. Szusza grinste, als sie die Stufen zum Bahnsteig heruntersprang. Auf der Hälfte der Treppe hielt sie inne und lies die Szenerie auf sich wirken.

Schon beim Soundcheck am Nachmittag, als außer Goldstück nur ein paar andere Leute herumliefen, war sie überwältigt gewesen von dem Anblick des ungenutzten Bahnhofs. Gleise, Rolltreppen, Sitzbänke, alles wirkte wie in einem ewigen Dornröschenschlaf. Nur für heute Abend erwachte die Kulisse zum Leben, morgen würde der Bahnsteig wieder verschlossen und dunkel sein. Jetzt, eine gute Stunde vor Konzertbeginn, war er in buntes Licht getaucht. Menschen liefen neugierig hin und her, kauften Getränke, Kuchen, Snacks, lasen die Flugblätter vom Infotisch und unterhielten sich. Über der Bühne, die an der Frontseite aufgebaut war und auf der die Instrumente, Mikrofone und Boxen noch im Dunkeln standen, spannte sich ein großes Transparent „Wehrpflicht abschaffen - Überall!!“

Szusza bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken, gleich auf die Bühne zu steigen, ihre Sticks in die Hände zu nehmen, sie gegeneinander zu schlagen und damit das Startsignal für den ersten Song zu geben. Sie konnte es kaum erwarten und lief in den kleinen Raum, der ehemals als Häuschen für die Bahnhofsaufsicht gedacht und nun zum Backstagebereich umfunktioniert worden war.

Matteo hockte auf einem Kasten Bier und sprach halblaut vor sich hin, er probte seine Anfangsrede, in der er vom Cems Vater erzählen wollte, von dem Geld, das Deutschtürken bezahlen mussten, wie die Familien sich damit überschuldeten und was für ein gutes Geschäft die türkische Regierung damit machte. Er wollte den vielen Helfern danken und auf die anschließende Führung aufmerksam machen. Laura saß vor einem kleinen Spiegel und schminkte sich, Cem quatschte mit dem Techniker. Szusza lehnte sich an die Wand, klopfte mit den Fingern den Takt von „Alles egal“ und ging in Gedanken zum zehnten Mal die Reihenfolge der Songs durch, als Mara hereinstürmte.

„Ausverkauft! Wir sind restlos ausverkauft. 250 Leute. Irre, oder?“

Cem sprang auf. „Ich kann das nicht. Mir ist schlecht.“

„Du bekommst keine Luft mehr? Dein Magen ist wie ein Stein, der brechen will? Knie sind nicht mehr vorhanden? Kalter Schweiß auf der Stirn?“

Cem nickte, Thommy, ein Vater und Musiker, der zum Abend-Manager bestimmt worden war, legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter.

„Bro, das ist Lampenfieber in seiner schönsten Form. Und ganz ohne Zweifel tödlich. Es gibt nur ein einziges Gegenmittel: Du musst auf die Bühne!“ Er sah auf seine Uhr. „Noch zehn Minuten“, rief er. „Seid ihr fertig? Wir haben noch was zu erledigen.“

„Mist? Haben wir was vergessen?“ Szusza stand neben Laura, Matteo legte Cem den Arm um die Schulter.

Thommy grinste. „Ja, Bühnen-Voodoo. Kein Auftritt ohne eine kleine Zeremonie. Alte Mucker-Tradition. Das bringt Glück.“ Er machte eine einladende Geste und wartete, bis ihm alle zuhörten. „Wir stellen uns in einem Kreis auf, fasst euch an, Leute. Los, Hand in Hand. Wir sind hier, weil diese vier Goldstücke, Cem, Szusza, Laura und Matteo eine geniale Idee verwirklicht, mit ihren großen Herzen etwas ganz Unglaubliches auf die Beine gestellt haben und jeder Einzelne von uns - jetzt Augen zu!- sammelt seine Energie und wird ...“, er machte eine kleine wirkungsvolle Pause, dann rief er „ALLES dafür geben, dass es eine verdammte fucking megageile Show wird. Auf Goldstück! Und noch mal: „AAAUUFF GOLDSTÜCK! Rockt das Haus! Und jetzt raus mit euch.“

Goldstück blieb noch einen Moment zusammenstehen, Arm auf Schulter auf Arm und sah sich in die Augen. „Alles klar?“ „Aber so was von!“

Draußen wurden die Bahnhofslichter gelöscht, die Gespräche verebbten, die Zuschauer drehten sich in Richtung Bühne. Zehn Sekunden später gingen dort die Scheinwerfer an, die Menge begann zu johlen und klatschen, solange bis Goldstück auf die Bühne sprang. Sie standen ganz vorne am Rand nebeneinander, einen Moment blieben sie still, dann verbeugten sie sich, tosender Applaus erklang. Szusza schlug mit den Sticks ein paar Mal auf die Snare, das Licht spielte Karussell, dann wurde es dunkler, bis nur noch ein Spot auf Matteo gerichtet war.

■ Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist im Verbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigenVerlagen2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de