„Die Einwanderer sind die Prügelknaben“

DÄNEMARK Heute gehen die Dänen zur Wahl. Warum der Ekel vor der Politik dort groß ist, erläutern die dänischen Schriftsteller Sissel-Jo Gazan und Peter Tudvad, die ihrer Heimat den Rücken gekehrt haben

Sissel-Jo Gazan, Schriftstellerin und ausgebildete Biologin, lebt seit 10 Jahren in Berlin. Ihr vorletztes Buch, der wissenschaftliche Kriminalroman „Dinosaurierfedern“, ist auch auf Deutsch erschienen. Gazan ist 2005 mit ihrer damals dreijährigen Tochter aus persönlichen Gründen nach Berlin von Kopenhagen gezogen. Im Alltag ist sie nicht sonderlich politisch engagiert, was sie selbst mit ihrer Erziehung begründet. Sie ist die Tochter genuiner 68er Eltern, „wo die Weltsituation für meinen Vater immer Vorrang vor meinen Schulauftritten hatte“. Aber in ihren Romanen kommt ihr gesellschaftliches Engagement zum Ausdruck. Zum Beispiel im letzten, wo die Weltgesundheitsorganisation WHO und ihre Impfprogramme stark kritisiert werden.

Gazan findet, dass der dänische Ton sich über die Jahre verändert hat. „Im Namen der Meinungsfreiheit kann man in Dänemark alles sagen. Und das tut man auch. Die Einwanderer sind die Prügelknaben, es fehlt an Nuancen in der Debatte, und es fehlt an Selbsteinschätzung: Dass man überlegt, was man eigentlich sagt. Dass man die Kinder mit einem toleranten Ton zu Hause erzieht. Früher habe ich geglaubt: Das Gesundheitssystem, das Schulsystem, die Demokratie – das sind unsere Exportwaren! Doch das ist vorbei. Der innere Stolz, Dänin zu sein, den habe ich längst nicht mehr“, sagt Gazan.

Seit neun Jahren lebt der dänische Philosoph und Schriftsteller Peter Tudvad in seiner Kreuzberger Wohnung in Berlin. Tudvad ist ein renommierter dänischen Søren-Kierkegaard-Experten und schreibt im Moment an seinem zweiten Roman. Er kennt sich gut aus mit Deutschland und deutschen Themen. Er hat ein großes Buch über den Widerstandskämpfer und Pfarrer Dietrich Bonhoeffer geschrieben und einen Bestseller „Sygeplejerske i Det Tredje Rige“ (Schwesternhelferin im Dritten Reich) über die Dänin Ebba Mørkeberg, die den Zusammenbruch von Hitlers Reich in Deutschland erlebte.

Flachköpfige Inhalte

Tudvad sagt ganz offen: „Ich bin nach Berlin gezogen, weil ich weg von Dänemark wollte. Die Decken in Dänemark waren mir zu niedrig, ich konnte es nicht länger aushalten. Berlin liegt in der Nähe und man kann hier günstig leben. Ich habe meinen Umzug nach Berlin damit gerechtfertigt, dass ich ein Buch über Kierkegaard, der mehrmals längere Aufenthalte in Berlin hatte, schreiben will. Das Buch habe ich nie geschrieben, aber dafür andere.“

Als Peter Tudvad Dänemark verlassen hat, war der rechtsliberale Anders Fogh Rasmussen schon fast fünf Jahre Ministerpräsident. Seine Regierung wurde von der populistischen Dänischen Volkspartei (Dansk Folkeparti) unterstützt. „Seine Regierung hat mit Sicherheit auch dazu beigetragen, dass ich wegwollte. Eine Sache ist, dass die dänische politische Rhetorik sich auf einem unfassbaren geringen Niveau befand und befindet. Dass der politische Inhalt so flachköpfig ist, kann man kaum aushalten. Ich weiß, dass die Deutschen vom Ekel vor Politik reden, aber sie haben wirklich keine Ahnung.“

Peter Tudvad scheut sich nicht, Dansk Folkeparti eine populistische Bewegung zu nennen. Die rechte Partei könnte nach den Umfragen bei über 18 Prozent der Stimmen liegen. „Die Dänische Volkspartei hat sich überall eingeschlichen. Viele meiner muslimischen Freunde, manche davon gut ausgebildete Akademiker, überlegen ernsthaft, das Land zu verlassen, weil sie den Ton nicht mehr ertragen. Die zwei Ministerpräsidentenkandidaten der Mitte, die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt und den rechtsliberalen Lars Løkke Rasmussen, interessiert es überhaupt nicht, internationale Standards einzuhalten oder eine gewisse humanistische Integrität zu bewahren. Sie versuchen sich gegenseitig zu übertreffen: Wer schafft es, so zu regeln, dass die wenigsten Flüchtlinge Dänemark betreten“, sagt Peter Tudvad.

Er schaut sich vergeblich nach politischem Weitblick um. „Osteuropa und die Europäische Union wurden in diesem Wahlkampf kaum erwähnt. Wenn überhaupt, dann nur um zu sagen, dass die EU eine Art Büfett sein soll, wo man sich aussuchen kann, was man möchte. Ich vermisse sehr, dass die großen Parteien sagen: Das geht nicht. Wir haben uns hier verpflichtet. Das tun sie aber nicht“, sagt der Philosoph. HENRIETTE HARRIS

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