3.000 ANSCHLÄGE AUF DIE KOALITION (7): LORENZ BÖLLINGER FORDERT DIE AUFHEBUNG DER CANNABIS-STRAFBARKEIT
: Verfassungswidriges Moralstrafrecht

Die Nachwahlrangeleien haben die Programme verflüssigt: Es tauchen Pläne auf, Ideen werden konkretisiert und Vorhaben benannt, von denen vor dem 10. Mai noch gar nicht so recht die Rede war. So wollen die designierten Koalitionäre ihre Profile schärfen. Die Gastkommentar-Serie der taz hilft Grünen und SPD dabei: Hier bündeln AkteurInnen der Zivilgesellschaft ihre Forderungen in Texten von je 3.000 Anschlägen.

■ Heute: Lorenz Böllinger, Sprecher des Schildower-Kreises.

Demokratischer Diskurs statt quasi-kirchlicher Zwangsmoral: Die Cannabis-Frage ist endlich auch in Deutschland auf der Agenda. Die überfällige parlamentarische Überprüfung der Drogenpolitik über den Bundesrat zu initiieren, sollte eine zentrale Aufgabe für die aktuellen Koalitionsverhandlungen in Bremen sein.

Vor bald 50 Jahren wurde die „Drogenwelle“ assoziiert mit linken Studentenkrawallen, wurde das Horrorszenario vom „amotivationalen Syndrom“ konstruiert und in die Form des Betäubungsmittelgesetzes gegossen. In politisch-medialem Verstärkerkreislauf verselbständigte sich die Drogenhysterie zum US-geführten, hegemonialen „War on Drugs“.

Manipulativ ausgebeutet wurde die Angst der Bürger vor Fremdbestimmung und Kontrollverlust, systematisch ignoriert die wissenschaftliche Aufklärung. Tauwetter im Kalten Krieg wurde möglich, als Terrorismus das Feindbild vom Drogen-Zombie ersetzte und totalitäre Kontrollmechanismen sich noch schmiegsamer durchsetzen ließen. Nur Holland mit dem Coffee-Shop-Modell trotzte.

Ausgerechnet die Legalisierungswelle in den USA und Uruguay macht sich nun niederländische Erfahrungen zunutze. Unspektakulär gingen zuvor EU-Mitglieder durch Freigabe des Cannabis-Eigengebrauchs in diese Richtung, während die GroKo in Deutschland weiterhin mauert.

Dabei hat sich der Diskurs in Deutschland seit zwei Jahren enthysterisiert, vorangetragen von vielfältigen Basisbewegungen: Hanfverband und Hanfmärsche, Wissenschaftler und Praktiker des „Schildower Kreises“ mit einer von 122 Strafrechtsprofessoren unterzeichneten Resolution an den Bundestag, unterstützt von Strafrichtern und verteidigern, Kriminalbeamten, Medizinern, Ökonomen und Elternkreisen: Die Cannabis-Strafbarkeit ist unverhältnismäßig und deshalb verfassungswidrig.

■ 70, ist emeritierter Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Uni Bremen und Sprecher des „Schildower Kreises“, einem Experten-Netzwerk gegen Drogenprohibition: 122 Professoren aus den Bereichen Strafrecht und Kriminologie haben das Manifest des Schildower Kreises mit dem Titel „Drogenprohibition: Gescheitert, schädlich und teuer“ unterschrieben.

Nun reagieren die Medien, die taz war ihnen weit voraus. Basisdemokratisch formieren sich Initiativen für „Cannabis Social Clubs“ oder Coffee-Shops. Rot-Grün fordert mit den Strafrechtsprofessoren eine Enquete-Kommission des Bundestages und ein „Cannabis-Kontroll-Gesetz“. Die Bewegung scheint nicht mehr aufzuhalten. Die Erfolge der Legalisierung im US-amerikanischen Colorado in Form von ersparter Kriminalisierung, hohem Steueraufkommen und verbesserter Prävention sind bereits messbar. Weitere lateinamerikanische Staaten sind auf dem gleichen Weg.

Der Krieg gegen die Drogen – eigentlich: die Konsumenten – konnte nicht gewonnen werden: Drogen-Mafias und Kartell-Kriege mit zigtausenden Opfern, organisierte Kriminalität, Geldwäsche, Finanzierung des Terrorismus sind durch ihn erzeugt worden. Moralisch-ideologisch legitimiert war er durchs Sündendogma von der Seele und Arbeitskraft zerrüttenden „Macht der Drogen“. Eine vernünftige Regulierung von Herstellung und Vertrieb von Cannabis zum Schutz von Verbrauchern und Jugend ist nicht aufzuhalten, auch wenn es noch Jahre dauern kann. Ein Stück Freiheit wäre dann wieder hergestellt.