Starke Symbolik

POESIE Gedichte lesen, Gedichte schreiben – ist auch Handwerk. Kann man also lernen. Ein paar Schreibübungen im Hinblick auf das am Freitag startende Poesiefestival Berlin

■ Kommenden Freitag, am 19. Juni, startet das Poesiefestival Berlin in der Akademie der Künste im Hanseatenweg mit der Eröffnung der Ausstellung „Aufs Maul geschaut – Mit Luther in die Welt der Wörter“ anlässlich der Feierlichkeiten zu „500. Jahre Reformation“. Motto der 16. Runde des Festivals ist „Kapital“. „Poesie als die Kunstform der Sprache“ schreibt dazu Festivalleiter Thomas Wohlfahrt, „ist in hohem Maße Kapital des ganzheitlichen Menschen“.

■ Dass diese Kunstform dabei in durchaus unterschiedlichen Währungen gehandelt wird, kann man gleich am ersten Festivalabend hören bei „Weltklang – Nacht der Poesie“, einem internationalen Panorama zeitgenössischer Dichtung mit Reiner Kunze, Jochen Distelmeyer, Zang Di aus China, Elena Fanailova aus Russland und anderen mehr.

■ Insgesamt haben 142 KünstlerInnen aus 32 Ländern ihren Auftritt beim Poesiefestival, das am Samstag, 27. Juni, mit dem Lyrikmarkt mit weitgehend allen Verlagen, in denen deutschsprachige Lyrik erscheint, beendet wird. Hier ist der Eintritt frei, den Festivalpass gibt es für 60/40 Euro. Info: www.poesiefestival.org (tm)

VON BJÖRN KUHLIGK

Was ein Gedicht ist? Ich habe eine Ahnung, aber ich weiß es nicht.

Ein Freund sagte mal, man müsse einfach nach der Hälfte der Zeile die Enter-Taste drücken. Nun ja, das jedenfalls nicht.

Das Gedicht erfordert eine genaue Arbeit im Detail. Bestenfalls hat jedes Wort einen Platz, an dem es schlüssig erscheint. Ansonsten hat das Gedicht so viele Möglichkeiten, wie es Wege zum Wannsee gibt. Ein Gedicht kann etwas erzählen, es kann ein Lied sein, es kann ein Gefühl ausdrücken, es kann moralisch oder amoralisch sein, es kann eine Form haben, es kann verrätselt sein, es kann darauf angelegt sein, in seiner Gesamtheit nicht verstanden zu werden, es kann ein Spiel sein. Und vieles mehr.

Wie man Gedichte schreibt? Indem man viele Gedichte liest, dann mit dem Kopf, dann mit den Händen. Am besten lange im Kopf, dann mit flinken Händen, denn die Hand, die schreibt, ist eigentlich immer zu langsam.

Es ist ein Abwägen, Zögern, Zweifeln, ein fiebriges Notieren, und vor allem ein Streichen, bis die Essenz von dem, was das Gedicht ausmachen soll, übrig bleibt. Dann ist es fertig. Vielleicht. Vielleicht schreibt man ein Gedicht auch nicht zu Ende, wie Paul Valéry sagte, sondern man gibt es auf.

Natürlich ist es möglich, das Schreiben von Gedichten zu erlernen, das ist so ähnlich wie Decken häkeln oder Kuchen backen ein Handwerk. Man besuche nur eine der Schreibwerkstätten wie Open Poems in der Literaturwerkstatt in der Kulturbrauerei. Doch die gute Bäckerin backt einen Kuchen, der einzigartig schmeckt, der gute Häkler häkelt, wie nur er es kann. Der Erfinder Thomas Edison soll gesagt haben, dass das Erfinden aus einem Prozent Inspiration und neunundneunzig Prozent Transpiration bestehe. Dieses eine Prozent muss schlichtweg mitgebracht werden, woher auch immer, damit die Gedichte einen Sog entwickeln, ein Alleinstellungsmerkmal.

Eine Schreibaufgabe: Beschreibe eine fliegende Schwalbe! Wie sieht sie aus? Wie eine Sichel? Wie eine doppelte Sichel? Und brauche ich einen Wie-Vergleich? Wie bewegt sie sich? Zitternd? Zuweilen majestätisch? Obgleich sie so klein ist? Vielleicht ist es wichtig, die Farbe des Himmels zu nennen? Azurblau? Opalblau? Hell? Leuchtend? Vielleicht sollte doch besser ein Gewitter aufziehen? Dann hätte das Gedicht noch mehr Farben. Ist der Himmel überhaupt wichtig? Ist es nicht ungeheuer langweilig, den Himmel zu beschreiben? Und braucht ein Schwalbengedicht überhaupt Farben? Und muss ich so abwägend herangehen? Und warum zum Kuckuck soll ich was über Schwalben schreiben, interessiert mich nicht. Mauersegler sind besser.

Warum zum Kuckuck soll ich was über Schwalben schreiben, interessiert mich nicht. Mauersegler sind besser

Neue Schreibaufgabe: Stell dich an eine Kreuzung, notiere, was du siehst! Autos, Busse, Menschen, klar! Was soll das denn bitte? Häuser, oh ja, auch klar! Aus dem Bus steigt ein Mann, er stolpert, aus seiner Einkaufstüte fallen vier Äpfel. Aha, Äpfel, starke Symbolik. Vielleicht sind es dann besser auch nur drei, auch starke Symbolik. Oder ist das zu viel Symbolik? Weiter, Augen auf, sammeln! Irgendwie sehen diese Autos aus wie Tiere, und diese Häuser sind eigentlich eine Mauer, oder? Klar, natürlich, plötzlich öffnet sich das Bild, kommen die Zusammenhänge, beginnt das Gedicht zu entstehen.

Neue Schreibaufgabe: Schreib über Traurigkeit! Puh, weiß ich jetzt auch nicht! Ich bin jetzt gar nicht traurig! Mach auf, sieh nach, du wirst was finden, sicherlich! Ist mir aber vielleicht zu persönlich? Dann überlegst du vielleicht mal, wie du es unpersönlicher gestalten kannst, ohne das Thema zu verlassen.

Andere stellen andere Schreibaufgaben, weil sie selbst anders schreiben, weil sie einen anderen Zugang zum Gedicht haben. Und irgendwann möchte man keine Schreibaufgaben mehr gestellt bekommen, bloß nicht, sie sind nicht mehr nötig. Nach langer Suche haben sich Parameter gefunden, die einem wichtig erscheinen. Und die sollten immer wieder überprüft werden. Die Ideen kommen von allein auf einen zu. Die besten Gedichte der Welt sind wahrscheinlich die, die man wie kleine glänzende Stücke mit sich herumträgt, die man auswendig kann, ohne sie gelernt zu haben. Die besten Zeilen der Welt sind die, die einem beim Schreiben immer wieder durch den Kopf geistern und die man immer wieder verjagen muss.

Ich war neulich bei einem Poetry Slam. Ich habe viel gelacht. Ich war einer von 200 Zuhörern. 200 Zuhörer! Für eine Lyriklesung wäre das verflixt viel. Hin und wieder wurde ein Gedicht vorgelesen, das in seiner Stümperhaftigkeit schon wieder eine Goldigkeit hatte. Poetry Slam hat mit einem Gedicht so wenig zu tun wie das Olympiastadion mit einer Teestube. Ein Poetry Slam vermag das Stadion zu füllen, da er darauf angelegt ist, bestmöglich zu unterhalten. Das Gedicht darf alles Mögliche, also auch hässlich sein, verstören, Widerspruch fordern und muss sich mitunter mit der Teestube begnügen. Teestuben sind sympathische Orte, was ich von Stadien nicht behaupten kann.

Björn Kuhligk, 1975 in Berlin geboren, schreibt nicht nur Gedichte und leitete von 2006 bis 2009 die Lyrikwerkstatt „open poems“ der Literaturwerkstatt