WIR : HIER

31. Kapitel

Du musst schlafen. Und wehe, morgen kifft einer! Getrunken wird auch erst nach dem Gig

Die Frau von der Bauaufsicht setzte sich erst nach mehrmaligem Bitten noch einmal zu der Gruppe an den großen Tisch. Ihren Mantel behielt sie an. „Das muss jetzt aber wirklich flott gehen. Ich sagte doch, ich habe Feierabend.“ Ungeduldig klopften ihre Finger auf die Tischplatte.

Die Runde starrte voller Erwartungen auf Unterwelten-Jörg. „Wie alle wissen, organisiert unser Verein regelmäßig Führungen durch Berlins Untergrund. Unter anderem auch entlang der stillgelegten Gleisanlagen der BVG. Die Gleise des ungenutzten Bahnhofs am Innsbrucker Platz führen zum Rathaus Schöneberg, gemäß dem Verlauf der ursprünglich geplanten Linienerweiterung. Wenn wir die Veranstaltung statt als Konzert als exklusive Führung mit Event anbieten, fiele sie nicht mehr in die Zuständigkeit der Bauaufsichtsbehörde, sondern in die des Denkmalschutzes. Es wäre so: Erst spielt Goldstück und im Anschluss führen wir die Zuschauer durch den Tunnel zum nächsten U-Bahnhof. Diesen Tunnel kann man, mit ein wenig gutem Willen, durchaus als Zweitausgang bezeichnen, denn entlang der Gleisstrecke befinden sich mehrere Notfalltüren. Was wir brauchen, sind ausreichend Schutzhelme für die Teilnehmer, die Einwilligung der BVG und auf den Plakaten müsste ein Hinweis geklebt werden, dass Besucher, die an der Führung teilnehmen, festes Schuhwerk anziehen sollen. Na, was meinen Sie?“ Er sah die Bauaufsichtsfrau an.

Die wägte ab, hob dann die Hände und sagte: „Nun, ich habe die diesbezüglichen Vorschriften nicht exakt im Kopf, aber da Sie so eine Veranstaltung nicht zum ersten Mal anbieten, gehe ich davon aus, dass Ihre Informationen in Hinsicht der zu befragenden Behörden korrekt sind. In meine Zuständigkeit fiele das jedenfalls nicht mehr.“ Sie stand auf, lächelte dünn und verabschiedete sich.

Der Rest der Gruppe war die nächsten zwei Stunden damit beschäftigt, die Pläne entsprechend zu ändern.

„Eine exklusive Führung durch die U-Bahn, das ist obermegasupercool.“

Jörg versuchte, die Euphorie zu bremsen. „Noch hat die BVG nicht zugestimmt. Normalerweise organisieren wir diese Touren gemeinsam, die sind sehr beliebt und in der Regel Monate vorher ausgebucht, aber ich habe da einen Kumpel bei der BVG, also eigentlich kann ich mir nicht vorstellen, dass die sich querstellen. Ist ja eine Sonderveranstaltung. Doch freut euch nicht zu früh, ich hab schon Pferde kotzen sehen.“

Der Onkel von Cem fragte nach. „Pferde kotzen? Meine Familie hat in der Türkei über Jahrhunderte Pferde gezüchtet, aber davon habe ich noch nie etwas gehört. Interessant!“ Cem legte den Arm auf die Schulter seines Onkels. „Das ist nur so eine Redewendung, Amca.“

„Ach so, ah, ich verstehe. Weil Pferde eben nicht kotzen, sagt man.“

„Ganz genau.“

„Deutsche haben komische Sprichwörter.“

„Wie lange spielt ihr eigentlich?“, fragte Jörg. „Wir müssen uns mit der Zeit koordinieren.“

Goldstück sah sie an. Das hatten sie total vergessen. Matteo überschlug schnell ihre Songs. „Ähm, so etwa eine dreiviertel Stunde. Schätzungsweise. Und vorher supportet uns eine Band von einer anderen Schule mit drei, vier Liedern. Also alles in allem etwas mehr als eine Stunde.“

„Perfekt. Na dann legen wir mal los. Gibt viel zu tun.“

Als das Treffen beendet war, standen Cem, Szusza, Laura und Matteo noch einen Moment zusammen.

„Fünfundvierzig Minuten? Das sind mindestens neun Stücke, Alter.“

„Ja, und wir müssen sofort anfangen zu proben. Wir haben überhaupt noch nicht geprobt.“

„Oh mein Gott, das wird so geil!“

„Aber nur, wenn wir halbwegs gut spielen, sonst wird es nämlich oberpeinlich.“

„Du bist eine olle Unke, Laura.“

Sie trafen sich, so oft es neben den anderen Vorbereitungen nur möglich war, im Übungskeller. Bei der allerletzten Probe, am Abend vor dem Konzert, spielten sie Durchlauf und stoppten die Zeit. Passt! Eine Zugabe hatten sie sich ebenfalls ausgedacht. Sie wollten einfach „Alles egal“, mit dem sie anfangen würden, noch mal spielen, nur mehr als doppelt so schnell. Die Mutter von Szusza hatte ihnen dunkelrote Bühnen-Shirts spendiert, auf denen in goldener Glitzerschrift „Keine Wehrpflicht – Nirgendwo!“, darunter „GOLDSTÜCK“ und auf der Rückseite ihre Namen prangten. Sie sahen darin ziemlich cool aus.

„Ich bin megaaufgeregt. Ich kann bestimmt nicht pennen.“

„Doch. Du musst schlafen. Und wehe, morgen kifft einer! Getrunken wird auch erst nach dem Gig. Ist das angekommen, habt ihr das verstanden? Matteo, du kopierst die Set-Liste zur Sicherheit zehnmal, Laura hilft Szusza beim Transport vom Drum-Set und der Verstärker. Und vergesst bloß nicht Ersatzsaiten mitzunehmen. Gaffa-Tape am besten auch. Geht früh ins Bett. Wir treffen uns um Punkt fünf Uhr zum Soundcheck. Alles klar?“

„Ja, Baba Cem. Alles klar.“

■ Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist imVerbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigen Verlagen 2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de