Missbrauch mit staatlichem Siegel

AUFARBEITUNG In den Siebzigern förderte der Senat die Unterbringung von Jugendlichen bei vorbestraften pädosexuellen Pflegevätern. Dieses dunkle Kapitel soll jetzt, Jahrzehnte später, endlich aufgearbeitet werden

VON NINA APIN

Nach den Grünen will nun auch die Berliner Senatsverwaltung ihre Verstrickungen in pädosexuelle Machenschaften professionell untersuchen lassen. Gegenstand der Forschung wird sein, warum vorbestrafte Pädosexuelle im Westberlin der 1970er Jahre zu Pflegeeltern gemacht wurden. Obwohl die Fälle schon länger bekannt waren, hatten die Behörden bislang nichts zur Aufklärung unternommen. Das soll jetzt anders werden: „Die Bildungsverwaltung wird das aufarbeiten“, sagte Ilja Koschembar, Sprecher von Bildungssenatorin Scheeres (SPD), am Montag. „Vermutlich wird es ein Forschungsgutachten werden.“ Scheeres selbst versprach, eine Anlaufstelle für Betroffene zu schaffen, um Menschen, die als Kinder oder Jugendliche Opfer sexueller Gewalt geworden seien, zu unterstützen.

„Pädagogisches Konzept“

Am vergangenen Wochenende berichteten die Welt und die Morgenpost, dass der SPD-geführte Jugendsenat Ende der 1960er Jahre mindestens drei minderjährige Heimausreißer an vorbestrafte pädophile Männer vermittelte. Der Sex zwischen Schutzbefohlenen und Betreuern gehörte dabei ausdrücklich zum pädagogischen Konzept: Er sollte die Jugendlichen, die im Strichermilieu vom Bahnhof Zoo unterwegs waren, stabilisieren. Initiiert wurde der Modellversuch von dem bekannten Sexualpädagogen Helmut Kentler, damals Leiter des Pädagogischen Zentrums. Und die Behörden, in denen dezidierte Verfechter alternativer Pädagogikmodelle und Freunde Kentlers saßen, genehmigten ihn. Noch 1988 brüstete sich Helmut Kentler in einem Gutachten für den Senat damit, wie erfolgreich die Pädophilen als Pflegeeltern waren. Die taz hatte bereits im September 2013 über den Fall berichtet, Verbindungen zwischen der damaligen Westberliner Heimaufsicht und dem pädosexuellen Netzwerk an der Odenwaldschule aufgedeckt und Aufklärung von der heutigen Jugendbehörde gefordert. Damals erklärte Sprecher Koschembar, man habe leider keinerlei Unterlagen mehr aus dieser Zeit, bemühe sich aber „nach Kräften“ um Klärung (siehe Abbildung).

Nach zwei Jahren gibt es offenbar immer noch keine neuen Erkenntnisse. Nach Auskunft des Jugendsenats hat sich niemand die Mühe gemacht, im Landesarchiv Akten und Organigramme zu sichten, um herauszufinden, über wessen Schreibtisch die Genehmigung für den haarsträubenden „Versuch“ ging. Diese Recherche will man nun Historikern übertragen und damit endlich die Behördenverantwortlichkeit für das Geschehene klären.

Vielleicht brauchte es erst die Initiative der Grünen, die kürzlich einen umfassenden Bericht über ihre Parteigeschichte präsentierten und dabei einiges ans Tageslicht brachten, um den Senat zum Handeln zu animieren. Vielleicht treibt die Behörden auch die Angst davor um, dass da noch mehr kommen könnte: Wie die Morgenpost herausfand, förderte die Jugendverwaltung noch 1991 eine von dem schwulen Beratungszentrum Mann-O-Meter erstellte „Adressliste zur schwulen, lesbischen und pädophilen Emanzipation“. Die 42 Seiten starke Broschüre, ebenso wie das Kentler-Gutachten im Archiv des Schwulen Museums einsehbar, liegt der taz vor. Die Liste umfasst, nach Postleitzahlen sortiert, Adressen von rund 600 Gruppen, Initiativen und Projekten. Darunter finden sich auch Pädogruppen wie die „Kanalratten“ aus Berlin, die Nürnberger Indianerkommune und die „Interessen- und Arbeitsgemeinschaft Pädophilie NRW“. Wie umfassend die „freundliche Unterstützung durch das Referat für gleichgeschlechtliche Lebensweisen der Berliner Senatsverwaltung für Jugend, Frauen und Familie“ war und wie viele Fördermittel wie lange flossen, verspricht die Jugendverwaltung nun zu ergründen.