Das Bildungsbibbertum

KARRIEREN Im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg drängen Eltern ihre Kinder immer aggressiver aufs Gymnasium. Sie treibt die Sorge, dass ihre Töchter und Söhne es einmal schlechter haben könnten. Über die Urangst der Mittelschicht

■ Übertritt: Es gibt nur zwei Bundesländer, in denen die Grundschule sechs Jahre dauert: Berlin und Brandenburg. In allen anderen wechseln Schüler nach der vierten Klasse auf eine weiterführende Schule. Als einziges Land lässt Berlin aber die Wahl zwischen der vierjährigen und der sechsjährigen Grundschule. Nur noch Mecklenburg-Vorpommern bietet nach der vierten Klasse eine zweijährige Orientierungsstufe, unabhänging von der Schulart. Selbst in Bayern ist auch nach der fünften Klasse Mittelschule oder Realschule ein Wechsel aufs Gymnasium möglich.

■ Entscheidung: Während in manchen Bundesländern Eltern frei entscheiden können, erteilen in anderen die Schulen verbindliche Empfehlungen – Grundlage dafür sind die Noten.

■ Quote: Das Gymnasium wird immer beliebter. Im Schuljahr 2012/13 wechselten rund 40 Prozent der Grundschüler in Deutschland auf eine Schule dieses Typs, zehn Jahre zuvor waren es nur 28 Prozent. Besonders viele Kinder wählten diesen Weg in Hamburg, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern. 2012 ging dort etwa jedes zweite an ein Gymnasium.

AUS BERLIN LENNART LABERENZ (TEXT UND FOTOS)

An einem Samstag im Frühling schüttelt Vita Mühleisen, neun Jahre, Rykestraße, 10405 Berlin, den Kopf. Nein, sie will jetzt nicht vorspielen, die Geige bleibt im Kasten, der Kasten in Papas Rucksack: Vita hat keine Lust. Da kann ihr Vater, Joachim Mühleisen, ein gemütlicher Mann, noch so unglücklich dreinschauen oder lamentieren: „Du hast doch gesagt, dass du üben willst.“

Ja, aber jetzt nicht. Sie lehnt sich vom Vater weg, lässt so viel Platz wie möglich zwischen sich und der Geige. Vita spielt seit bald fünf Jahren, einmal die Woche Einzelunterricht, am Wochenende in der Gruppe.

Am Montag muss sie vorspielen: musikalischer Eignungstest an der Georg-Friedrich-Händel-Oberschule, ein „musikbetontes Gymnasium“, heißt es auf der Internetseite. Worauf Vita prinzipiell schon Lust hätte: zwei Jahre früher von der Grundschule abgehen und in die fünfte Klasse des Gymnasiums zu wechseln.

Joachim Mühleisen drängelt, die hohe Stirn in Falten: „Och bitte, Vita!“ Allein: Sie will nicht, Ellenbogen auf die Knie, das Kinn mit den Händen gestützt, im Gesicht Langeweile, Trotz. Vivaldi, sagt sie, wenn man fragt, was sie beim Test vorspielen wird. Was genau? Pustet durch die Lippen, rollt die Augen. „Den ersten Satz.“

In Berlin steigt die Zahl der Kinder, die schon nach dem vierten Jahr die Grundschulen verlassen und auf eines der grundständigen Gymnasien gehen wollen. Die Grundschule dauert sonst sechs Jahre, anders als in den meisten anderen Bundesländern. Jedes Jahr bewerben sich nach der vierten Klasse deutlich mehr Kinder, als Plätze angeboten werden. Am Händel-Gymnasium werden 60 Schüler für die fünfte Jahrgangsstufe zugelassen. In diesem Frühling bewarben sich 134 Kinder, Rekord.

Vita Mühleisen ist nicht die optimale Kandidatin, ihr Notendurchschnitt ist eher mittelgut, eine Drei in Sachkunde ist ein Problem. Sie ist auch noch ein wenig mucksch, gerade so hat sie die notwendige Lehrerempfehlung bekommen. Sabine Funke, ihre Klassenlehrerin an der Elisabeth-Abegg-Grundschule, wird sagen, dass es Vita „überhaupt nicht schaden würde, noch zwei Jahre hier zu bleiben. Jetzt, wo die stärkeren Schüler aus der Klasse gehen.“ Und gehen werden einige: 12 von 24 Schülern aus der 4b wollen nach den Sommerferien aufs Gymnasium wechseln.

An einem Frühlingsmorgen vor acht Uhr ist Betrieb auf der Christburger Straße, in der Vitas Schule liegt. Es wimmelt vor Schülern, Eltern überwachen den Gehweg, Mütter rollen die Straße hinab, Kinder hintendrauf, die Räder kommen aus Holland, es gibt Geschrei, Gelächter und vereinzelte Väter. Ein schönes Bild im Frühlingslicht. Eines, in dem man Lebensfreude erkennen möchte. Allein das Idyll trügt.

Axel Fischer ist ein kleingewachsener, schmaler Mann, das sieht man trotz breiter Querstreifen des Pullovers. Fischer, ein energischer Typ, ist in Reinickendorf aufgewachsen, lebt noch dort, er hat an der TU Berlin studiert: Fischer kennt Berlin, vielleicht besser als viele der Eltern, die ihre Kinder gerade vor der Schule abliefern. Er hat sich mit dem Rücken zum Fenster gesetzt, aber vieles, was er erzählt, weist aus dem Fenster auf die Nachbarschaft. Axel Fischer ist seit vierzehn Jahren Lehrer an der Elisabeth-Abegg-Grundschule im Prenzlauer Berg, seit sechs Jahren ihr Direktor.

Die Abegg-Grundschule gehört zu einem privaten Verbund „Christlicher Schulen und Kindertagesstätten in freier Trägerschaft“. Fischer erklärt, dass Eltern ein Schulgeld bezahlen, je nach Einkommen. Sie unterschreiben, dass sie „die christliche Glaubensausrichtung der Schule akzeptieren“. Natürlich können auch Muslime ihre Kinder anmelden – passiert aber eher selten.

Und Axel Fischer erzählt von der Ministerialbürokratie, die nach Berlin umgezogen ist, er spricht von steigenden Mieten, vom rasanten Wandel der Nachbarschaft. Dann sagt er: „Wenn Kinder nach der vierten Klasse auf das grundständige Gymnasium wechseln, dann ist das nicht ihre Idee und ihre Entscheidung. Das kommt fast immer von den Eltern.“

In Berlin haben sich im Frühjahr 2.861 Kinder auf solche Gymnasien beworben, fast 200 Kinder mehr als im Vorjahr. Auf private Gymnasien wollen so viele Schüler gehen wie noch nie. Und auch wenn es nie so viele Plätze an fünften Klassen in den Gymnasien gab wie heute, fehlen immer noch 221.

Vor ein paar Jahren änderte die Abegg-Grundschule ihre Ausrichtung, sie wollte enger mit ihrem Kiez verbunden sein, mehr Kinder aus der Nachbarschaft unterrichten. Zum ersten Mal wählte die Schule ihre Schüler aus. Das Ergebnis ist der Jahrgang von Vita Mühleisen, der jetzt in der vierten Klasse sitzt. Aus der so viele wie nie vorzeitig ans Gymnasium wollen.

Schuhe müssen nicht immer etwas über ihre Besitzer aussagen. Aber sie können.

Joachim und Vita Mühleisen tragen Schuhe, die breit sind und aus Leder. Joachim Mühleisen kauft alle Jahre ein Paar, immer dieselbe Marke. Lange halten sollen sie, bequem sollen sie sein: Aussehen spielt keine Rolle. „Dauerhafte Modelle, die die Flüchtigkeit von Modetrends überwinden“, wirbt der Hersteller. Joachim Mühleisen kommt aus einer pietistischen Familie, ist in einem Dorf in Schwaben aufgewachsen, ein Leistungsideal ist ihm fremd. Die Idee, Filmemacher zu werden, versickerte, er kümmert sich lieber um Projekte, an denen er alleine werkeln kann. Geld verdient er mit Unterricht an Volkshochschulen. Seine Ehe wird wenige Tage nach Vitas Eignungstest geschieden. Die Dinge sind, wie man so sagt, kompliziert.

Müsste Joachim Mühleisen seine Einstellung zum Leben beschreiben, könnte er den Slogan der Schuhfirma verwenden: die Flüchtigkeit von Modetrends überwinden. Er ist eher kein Klischee-Vater vom Prenzlauer Berg.

Und doch, er ist es auch: Zwar begleitet er seine Tochter zu keiner Yoga-Stunde, ihre Geige aber trägt er im Rucksack durch die Stadt, mit neun Jahren lässt er sie kaum allein über eine Ampelkreuzung laufen. Er spricht vom soliden Leder der Schuhe, man spürt seinen Wunsch nach etwas Sicherem, Festem. Für Essen aus dem Bioladen reicht es selten. Mit Hubschrauber-Müttern will er nichts zu tun haben. Und doch spürt man seine unterschwellige, allgegenwärtige Angst. Angst, der Tochter könne etwas passieren oder zumindest die Laune verderben.

Denn wenn Vita dabei ist, kann es schwierig sein, sich mit ihrem Vater zu unterhalten: Ständig muss sie ihm etwas zeigen, er muss etwas für sie tun, ja, jetzt sofort. Die Idee, dass Kinder, wenn Erwachsene sich unterhalten, nachfragen, ob sie kurz stören können, gilt nicht. Erziehungswissenschaftler sprechen vom „kindzentrierten Familienmodell“, das unsere Zeit ausmacht. Man kann es auch so sehen: Joachim Mühleisen ist ein maximal netter und maximal konfliktscheuer Vater. Nachdem er die Langzeitbeobachtung „Boyhood“ von Richard Linklater sah, hatte er eine Idee: Ein paar Tage im Jahr beobachtet er jetzt mit einer kleinen Videokamera den Alltag seiner Tochter.

Eltern stiften ihre Söhne zur Spionage an

Warum sie schon jetzt auf das Gymnasium soll? „Ich will, dass ihr Geigenspiel gefördert wird.“ Vita habe das Orchester gefallen, und nach der Grundschule könne sie nicht auf das Händel-Gymnasium wechseln – aus ihrem Jahrgang nimmt es zur siebten Klasse keine neuen Schüler auf. Fragt man Joachim Mühleisen, welche Gymnasien und Schulorchester sie sonst angeschaut haben, sagt er: „Nur das Händel.“

Dabei ist der frühzeitige Schritt auf ein Gymnasium kein gleichgültiger Akt. In ihm zeigt sich etwas, das weit über den Prenzlauer Berg Bedeutung hat, eine tiefe Unsicherheit, eine Angst.

In ganz Berlin finden sich viele Geschichten, die absurd klingen: Mütter kämpfen mit ihren Kindern um jede Entscheidung, fahren sie noch bis ins sechste Lebensjahr im Kinderwagen in die Tagesstätte. Oder jahrelang mit dem Auto in die Schule. Mit neun Jahren zwängt sich Vita häufig auf das Rad zum Vater, Eltern in Tiergarten schicken ihre Kinder lieber über vielbefahrene Kreuzungen als entlang der träge fließenden Spree: Unten am Fluss schlafen Obdachlose.

In Schulen intrigieren Eltern gegen Lehrer und Verwaltung, mobben andere Kinder und deren Eltern, stiften ihre Söhne zur Spionage an, legen Dossiers über Stundenverlauf und Lehrer-Engagement an. Was der Förderung der Kleinen abträglich ist, muss unterbunden werden. Oft scheinen Manieren die zweite Geige zu spielen; wer mit Lehrern und Angestellten aus der Bildungsverwaltung spricht, bekommt den Eindruck, die Komödie „Frau Müller muss weg“, in der sich Eltern gegen eine Lehrerin verschwören, sei höchstens eine blasse Ahnung von dem, was an Schulen vor sich geht.

Die wenigsten wollen darüber reden. Auf die Anfrage, ob man die 4b, Abegg-Grundschule, eine Weile begleiten könne, bekommt man sofort eine Mail, „als Mutter von M… möchte ich nicht, dass M… oder ich in Ihren Recherchen oder im Artikel bzgl. grundständigen Gymnasien befragt oder erwähnt werden“.

Schließlich finden sich doch Eltern, Kinderpsychologen und Journalisten, die das Thema seit Jahren begleiten und die alle im Schutz der Anonymität erzählen: Sie berichten von einer grassierenden Angst. Wie ein fahles Gift ist sie in den Alltag gesickert, übernimmt Entscheidungen, dominiert Vorstellungen und Reaktionen. Bildung ist das „Signalthema“ einer Angst um den Statusverfall der Mittelschicht, hat der Soziologe Heinz Bude in seinem Essay „Gesellschaft der Angst“ formuliert. Zwar gebe es mittlerweile auch „Bildungsverlierer aus bildungsreichen Milieus und Berufsversager aus Aufsteigerfamilien“, allerdings fänden sich statistisch kaum Stürze ins Bodenlose. Vielmehr sind da geringere Chancen zum sozialen Aufstieg dokumentiert, weniger Gruppen haben mehr zu holen und insgesamt gibt es weniger zu verteilen. Offensichtlich genügt das für einen tiefgreifenden Orientierungsverlust.

Dabei werden Grundüberzeugungen vom Wohlfahrtsstaat über Bord geworfen. Immer weniger Menschen aus der sozialen Mitte akzeptieren, dass soziale Differenzen staatlich moderiert werden müssten. Die „individuelle Vorteilsgewinnung“ habe über eine „kollektive Kooperationsverpflichtung“ gesiegt, räsoniert Heinz Bude: „Die Zeiten, in denen individuelle Tüchtigkeit und gemeinschaftliche Bindung in der Mentalität der Mitte zusammengehören, sind offensichtlich vorbei.“

Wer sich mit Eltern unterhält, denen es wirtschaftlich gut geht und die ihre Familie als Aufstiegsgeschichte darstellen, kann hören, was Soziologen das „Sicherheitsparadoxon“ nennen: Die Empfindlichkeit für Unsicherheit wächst mit dem Ausmaß der eigenen Sicherheit. Mit dem Blick aufs Kind potenziert sich diese Angst noch. Aus Erwachsenen werden dann, was Anke Stelling in ihrem Roman „Bodentiefe Fenster“ beschreibt: Angsteltern. „Eltern sind zwangsläufig angepasste Angsthasen, weil sie glauben, dass die eigene Abweichung den Kindern vielleicht schaden könnte. Oder sie sind größenwahnsinnig und skrupellos, wieder im Namen der Kinder, die’s schließlich mal besser haben sollen oder zumindest gleich gut.“

Für die Zukunft der Sprösslinge muss jetzt bereits alles erdenklich Gute organisiert werden. Auch gegen andere. Joachim Mühleisen, der sonntags mit Vita in die Kirche geht, war überrascht, dass die wenigsten Eltern der evangelischen Grundschulklasse religiös sind.

Allerdings sieht auch er an allen Ecken und Enden Bedrohliches: Fragt man ihn, warum er seine Tochter nicht mit einem Schlüssel ausrüstet, damit sie sich, bevor er nach Hause kommt, selbst in der Wohnung aufhalten kann, er dafür aber jedes Mal durch ein Organisationschaos watet, schaut er erschrocken, fast ertappt: „Ich will nicht, dass sie da alleine ist.“

Fragt man Eltern, warum ihre Kinder nicht mit der BVG zur Schule kommen, zucken sie, blicken ähnlich: „Ich lasse meine Tochter nicht allein in der U-Bahn fahren! Da weiß man nicht, wer da unterwegs ist.“ Erkundigt man sich bei Kreuzberger Müttern, Wählerinnen der Grünen, warum sie ihre Kinder lieber auf der Privatschule in Mitte unterbringen als in ihrem Multikulti-Kiez, kriegen sie kurz spitze Gesichter. Erzählen Luftiges.

Abegg-Grundschule, 4b, die Unterschiede sind überraschend groß: Die einen sind schon etwas aufgeschwemmt – oder drahtig, von den vielen Stunden auf dem Skateboard. Es gibt solche, die wirken wie zu schnell gewachsene Rehkitze, sie müssen erst noch die Beine sortieren. Und solche, die zwei Köpfe kleiner sind und weinen, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen. Manche muss man auf logische Schlüsse mit der Nase stoßen, andere beurteilen jeden Gedichtvortrag sofort, trennen zwischen Körperhaltung und flüssiger Performance. Das Urteilen über Leistungen anderer fällt vielen leicht.

Die Möwenklasse überrascht ihre Lehrerin

Sie habe sich sehr gefreut, wieder eine dritte Klasse zu übernehmen, erzählt Sabine Funke, kurze Haare und mit einem so zugewandten Wesen, dass man schnell feststellt: Grundschullehrerin ist für sie Arbeit und Passion. Die Möwenklasse 4b, in der auch Vita sitzt, überraschte sie. Sabine Funke ringt mit den Worten, sie will vorsichtig sein, aber doch: „extrem leistungsbereit, leistungswillig. Und viele eben auch ziemlich ich-bezogen. So hatte ich das noch nie erlebt.“

Funke verstand schnell, dass da etwas von den Eltern auf die Kinder überging, schon in der dritten Klasse forderten die Eltern Noten oder wollten wenigstens wissen, was für Noten die Kinder denn bekommen würden. Häufig geht es um: Extraprogramm, Extraförderung, Extraaufgaben – gerade vor der Empfehlung für das Gymnasium. Natürlich waren sie gerne bereit, dafür zu bezahlen.

Die beeindruckende Studie „Eltern – Lehrer – Schulerfolg. Wahrnehmung und Erfahrungen im Schulalltag von Lehrern und Eltern“ stellt fest, dass das Thema Schule gerade in der sozialen Mitte immer größeren Raum einnimmt und oft Familien dominiert. Besonders aufschlussreich ist die Feststellung, dass sich da etwas umgekehrt hat: „Bot Bildung vor einer Generation noch die Chance für sozialen Aufstieg und Akkumulation von Ressourcen und Prestige, so ist Bildung heute aus Elternsicht die notwendige und nicht substituierbare Voraussetzung für Anerkennung und Statuserhalt. Bildung ist nicht mehr mit der Verheißung von Aufstieg verbunden, sondern soll das Risiko des sozialen Abstieges reduzieren.“ Wer aus seiner sozialen Schicht nicht herausfallen, seinen Status für die Kinder wahren will, ist zu höherer Bildung gezwungen.

Im deutschen Bildungssystem dominiert noch immer die Vorstellung, dass es sich in Gruppen mit ähnlicher Leistungsstärke besser lernen lasse – Gymnasial-Eltern sind oft die eifrigsten Fürsprecher dieser Idee. Und deshalb ist das natürlich ein Hammerwitz, den Carlos reißt, Möwenklasse 4b: Wir sprechen über ein Zeitungsfoto, ein zerschossenes Auto in Aleppo. Carlos, aufgeweckter Typ, der sich auch länger mit einer Sache beschäftigen kann, hat einen feinen Sinn für Ironie, aber vielleicht auch einen früh ausgeprägten, nüchternen Blick auf die Gentrifizierung in der Stadt: „Ach der Fotograf heißt Mohammed? Na ja, vielleicht kommt er ja aus Neukölln.“

Denn im Prenzlauer Berg gibt es sehr wenige Jungs, die Mohammed heißen, man hat sich eingerichtet, vielleicht mit der Vorstellung, dass sich mit ähnlicher Leistungsstärke netter leben lässt. Die Kinder schickt man auf das musische Gymnasium oder die katholische Eliteschule, blickt auf Schnelllerner-Kurse und altsprachliche Erziehung, weil die Institutionen gewährleisten sollen, dass der Nachwuchs bei Verteilungskämpfen nicht hinten runterfällt.

Die Autoren der Schulstudie stellten fest: Für viele der selbst gut Gebildeten sei das Gymnasium ein soziales Muss. Und es könnte ja ein entscheidender Vorteil sein, die Kinder schon nach der vierten Klasse wechseln zu lassen. Auch wenn Erziehungswissenschaftler beteuern, dass die Kinder in den Gymnasialklassen gar nicht mehr lernen, dafür aber einem arg gesteigerten Konkurrenzdruck und einer stressigen Eingewöhnungsphase ausgesetzt sind.

Der Prenzlauer Berg stellt nicht notwendig eine eigene Qualität dar, hier siedelt nur besonders häufig eine bestimmte Sozialfigur der deutschen Gesellschaft. Gut ausgebildet, politisch eher indifferent, ein Bein in der Kreativindustrie. Utopielos setzen sie dem steigenden Druck eines Schulsystems, das über Selektion funktioniert, so früh wie möglich Training für ihre Kinder entgegen: damit die Kleinen besser werden, im Ausscheidungswettkampf.

Ende Mai ist es so weit: In Berlin werden die Mitteilungen verschickt, wer auf welches Gymnasium darf. Als Vita ihre Ablehnung bekommt, laufen ihr Tränen übers Gesicht, erzählt ihr Vater. Obwohl sie sich vorgenommen hatte, tapfer zu sein. Ihrer Freundin hatten die Eltern Gesangsunterricht verordnet. Monatelang ging sie abends zitternd schlafen. Jetzt rief deren Vater an, nur eine Frage: Hat deine Tochter es geschafft? „Man muss seine Kinder heute professionell präparieren, wenn man sie auf so eine Schule schicken will“, sagt Joachim Mühleisen. Unter seine Enttäuschung mischt sich auch: Erleichterung.

Man kann sich auch mit Dirk Rachnar treffen, Rettungsassistent, sozialisiert im religiösen Milieu der DDR, Vater von vier Kindern. Seine Tochter Franziska ist die zweitjüngste, fast jeden Morgen fährt er sie aus Alt-Treptow in den Prenzlauer Berg. Franziska ist vielleicht die stärkste Schülerin in der 4b; schon im Kindergarten, erzählt ihr Vater, habe sie ihrem kleinen Bruder vorgelesen. Sie ist energischer als die meisten Mädchen und unbedingt: die Anführerin.

Ständig hat sich die Mutter beim Vortrag eingemischt

Rachnar erzählt, dass spätestens seit Beginn des Schuljahres andere Eltern ihre Kinder unbedingt mit Franziska zusammenarbeiten lassen wollten. Töchter mit mittelguten Noten sollten davon profitieren, dass Franziska sich gerne um Schwächere kümmert und Dinge auch zweimal erklärt. „Das nahm unglaublich zu, als die Eltern den Blick aufs Gymnasium gerichtet hatten.“

Konnte auch kompliziert werden, Rachnar lacht, es ist überstanden, aber der letzte Powerpoint-Vortrag, den Franziska mit einer Mitschülerin machte, „war die Hölle“. Die Mutter habe sich ständig eingemischt und Franziska jeden Spaß genommen.

Dann aber, mitten in die gelassenen Erzählungen hinein, sagt auch Rachnar Sätze, die merkwürdig klingen können. Dass er für Franziska ständig Zusatzarbeiten besorge und: „Wir sprechen mit ihr zu Hause fast nur in Aufgabenform.“

Er will sie animieren, herauszufinden, worauf sie Lust hat – bei ihrem älteren Bruder habe er erkannt, dass es besser ist, eigene Interessen der Kinder zu suchen und nicht mit einem pauschalen Leistungsbild zu hantieren.

Eines aber stand nie zur Debatte – Franziska wollte auf keinen Fall frühzeitig aufs Gymnasium wechseln. „Sie fühlt sich hier wohl, sie hat ihre Geschwister auf der Schule, warum sollten wir das ändern?“ Als ihr Vater sie nach dem Gymnasium fragt, winkt Franziska ab und schaut erstaunt.

Zum Schluss dann noch eine Frage, Sabine Funke: Wie das wohl wird, wenn all die starken Schüler, die gerne für sich die guten Noten reservieren wollen, aus den Sommerferien nicht mehr zurückkommen. Ob dann der Rest nicht ein Verlierergefühl habe? Auf der Christburger Straße ist es still geworden, vor den Café-Fenstern malt die Frühlingssonne weichere Kontraste. Sabine Funke, die Lehrerin, lächelt. „Glaube ich überhaupt nicht. Schön wird das.“

Lennart Laberenz, 38, ist freier Reporter in Berlin