: Zwiebelkuchen gegen die Krise
PERFORMANCE Bei X Apartments in Athen drehte sich alles um das Unvollkommene: käuflichen Sex, Sperrmüll und Flüchtlinge im Luxuspool
VON FATMA AYDEMIR
Nein, Athen ist sicher nicht die schönste Stadt Europas. Beim Spaziergang durch das Zentrum: mit Zeitungen verklebte Schaufenster, bröckelnde Fassaden, abgesperrte Kaufhausruinen. Fast zynisch thront die imposante Akropolis auf dem Hügel über der Stadt, schaut hinab auf ein Museum für Moderne Kunst, das nur drei Jahre nach seiner Eröffnung im Jahr 2003 wegen Baumängeln geschlossen wurde und seitdem einfach so herumsteht, großkotzig und ohne Aufgabe, weil die Mittel fehlen, um es fertigzustellen.
Es steht symptomatisch für eine gesamte Stadt, die mit dem Aufschwung der späten neunziger Jahre im Begriff war, sich komplett zu modernisieren, doch mitten im Erneuerungsprozess hängen geblieben ist – unfertig und gelähmt. Vor allem diesem Zustand chronischer Unvollkommenheit in Zeiten der Krise widmete sich die Performancetour X Apartments, die am Pfingstwochenende in Athen stattfand. Die von Matthias Lilienthal konzipierte und inzwischen von wechselnden Dramaturgen kuratierte Schnitzeljagd (diesmal: Anna Mülter und Katia Arfara) führt seit vielen Jahren in die Wohnzimmer und Hinterhöfe der Bewohner diverser Metropolen und erzählt die Geschichten dieser Orte und Menschen mittels interaktiver Kurzperformances.
Die erste von zwei Touren in Athen führt durch Agios Pavlos, einer Gegend im Norden Athens, die früher vor allem von Arbeitern der nahe liegenden Werkstätten und Fabriken bewohnt wurde. Mittlerweile aber hat hier kaum einer mehr einen Job. Eine Installation hinter dem nahe gelegenen und ebenfalls nie fertiggestellten Athener Hauptbahnhof widmet sich jenen, die durch die Finanzkrise ihre Häuser verloren haben. Aus Müll haben sie sich wetterfeste Hütten gebaut. „Vor 20 Jahren floh ich vor der Krise in Brasilien nach Griechenland“, erzählt einer der Männer in den drei Baracken aus Sperrholz und Kunststoffplanen. „Nun herrscht hier dasselbe Problem. Aber ich kann nicht noch mal von vorne anfangen, ich bin zu alt dafür.“
Derweil empfängt eine Prominente des Viertels ihre Gäste bei gedämpftem Licht in einer bescheidenen Zweizimmerwohnung. Paola Revenioti ist Exprostituierte, Transfrau und Künstlerin. An ihren Wänden hängen Bilder, die sie von jungen und teilweise entblößten Männern gemacht hat, und die bei diversen Ausstellungen, zuletzt auf Kreta, wegen heftiger Beschwerden abgehängt werden mussten. „Das waren alles meine Liebhaber“, sagt Revenioti, „aber ich kann mich nur noch an die Namen jener erinnern, die ich wirklich geliebt habe.“ Auf dem Couchtisch liegen Kondome und ein Vaporizer, darunter sitzt ein kleiner Hund mit traurigen Augen. „Er hat Krebs“, erzählt die Künstlerin, „er wird es nicht mehr lange machen.“
In Plati Attiki, wo die zweite Tour stattfindet, lebt der konservative Mittelstand neben Migranten aus Osteuropa, Bangladesch oder Syrien. Die Neonazipartei Goldene Morgenröte hatte hier ihr erstes Büro, in den achtziger Jahren. Aufgrund von Reformen der Migrationspolitik durch die Syriza-Regierung herrscht hier hoffnungsvolle Aufbruchstimmung. Bari, ein 18-jähriger Sohn von Einwanderern aus Sierra Leone, empfängt die Tourteilnehmer in seinem Kinderzimmer und stellt ihnen Fragen aus seinem Einbürgerungstestbuch: „Wie viele Sitze hat Griechenland im EU-Parlament?“ Anna wiederum, eine kleine aufgeweckte Frau, serviert hausgemachten Rosmarinlikör. Sie zog aus Moldawien hierher, in ein winziges Zimmer im Dachgeschoss eines fünfstöckigen Wohnhauses, und arbeitet als Putzfrau. Ihren kriegstraumatisierten und alkoholabhängigen Ehemann ließ sie zurück, kurz darauf starb er. Anna träumte jahrelang von ihm, bis sie eines Tages mit ihren Nachbarn Zwiebelkuchen aß. Danach hörte es auf.
Neben der eindrucksvollen Aufarbeitung dieser bewegenden und sehr persönlichen Athener Geschichten schaffen es die ausgewählten X-Apartments-Künstler, die jeweils einen der Tourstopps bespielen, zudem, wunderbar surreale Bilder und Atmosphären zu erzeugen: In der Suite eines Stundenhotels etwa singen blendend aussehende Performer Popballaden von No Doubt und Depeche Mode mit eiskalter Miene. Auf der Dachterrasse eines Luxusapartments schwimmt ein schwarzer Flüchtling durch einen Pool mit dreckigen Kleidungsteilen – zu Drone-Musik, die eine Siebenjährige einspielt. Nein, Athen mag nicht die schönste Stadt Europas sein, aber vielleicht das ehrlichste Antlitz dessen, was der Kontinent so zu bieten hat.
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