Ein perfekter Handwerker

KONSOLIDIERUNG Allen wohl und keinem weh: Måns Zelmerlöw aus Schweden gewinnt den 60. Eurovision Song Contest. Außerdem mit dabei: Königin Conchita Wurst, Deutschland ohne Punkte und der russische Beleg dafür, dass ein Lied eben doch eine Lüge sein kann

■ Die Top 5: 1. Schweden. Måns Zelmerlöw: Heroes (365 Stimmen), 2. Russland. Polina Gagarina: A Million Voices (303), 3. Italien. Il Volo: Grande Amore (292), 4. Belgien. Loic Nottet: Rhythm Inside (217), 5. Australien. Guy Sebastian: Tonight Again (196)

■ Auswertung: Wie gestern bekannt wurde, waren die Italiener die ESC-Sieger beim demokratischen Televoting. Die Expertokratie der JurorInnen hingegen setzte auf den schwedischen Sieger, der bei reiner Zuschauerabstimmung lediglich Dritter geworden wäre.

■ Vorne und hinten: Schweden gewann zum 6. Mal. Deutschland blieb zuletzt 1965 punktlos.

AUS WIEN JAN FEDDERSEN

Während die Siegerpressekonferenz schon lief, schlichen, irgendwie ungläubig lächelnd, zwei der vorne Platzierten durch den Pressebereich in der Wiener Stadthalle. Der Belgier Loic Nottet, der es mit der elektrodurchwirkten Ausdruckstanznummer „Rhythm Inside“ auf den vierten Platz schaffte. Und die Lettin Aminata, Kind lettisch-russischer und burkina-fasoischer Eltern, die mit ihrer Trance-Triphop-Nummer „Love Injected“ wirklich in keiner der Prognosen als Topkandidatin gehandelt worden war und doch den sechsten Rang belegte. „Wahnsinn, das hätte doch keiner gedacht“, sagte sie.

Eine allerdings rang um Fassung. Oder vielleicht besser: darum, nicht vor Enttäuschung im Boden zu versinken. Ann Sophie, die deutsche Kandidatin, hatte mit ihrem Lied „Black Smoke“ nichts falsch gemacht. Aber beim ESC geht es ja nie darum, keine Fehler zu machen, sondern das Gelingende irgendwie sympathisch vor der Kamera rüberzubringen. Und „Black Smoke“ bewegte von allen Finaleliedern das Publikum am wenigsten – von Madeira bis nach Astrachan, von Hammerfest bis Eilat. Aus keinem Land erhielt der Titel auch nur einen einzigen Zähler.

Ann Sophie, die im Gespräch tags zuvor sagte, sie möge es gar nicht, keine Optionen zu haben, und wolle lieber immer wählen, schwor mit trauriger Stimme, weiter an ihrer Kunst zu feilen, aber jeder weiß: Sie könnte noch ein Medizinstudium absolvieren, wie sie es bis zum Februar noch vorrangig im Blick hatte.

Dann kam damals die deutsche Vorentscheidung, bei der nicht sie gewann, sondern der Soulist Andreas Kümmert – der aber im Moment des Gewinns doch keine Lust mehr hatte, auf das Ticket nach Wien verzichtete und Ann Sophie als deutsche Kandidatin auslobte.

Wahrscheinlich war das ESC-Schicksal der Hamburgerin schon nach dieser Vorentscheidungsshow besiegelt. Als Nichtgewinnerin in Wien – wie hätte das gut gehen können? „Black Smoke“, so perfekt sie es auch performt hatte, blieb im Vergleich mit den meisten anderen Acts eher blass. Eine starke Stimme singt ein loungig-peppiges Lied – aber da war kein Pathos im Spiel, keine Lust auf ein Ihr-werdet-mich-kennenlernen schimmerte bei ihr hindurch. Sie werde, sagte Thomas Schreiber, Unterhaltungskoordinator der ARD und deutscher ESC-Chef, weiter in der ARD beachtet werden, sie habe einen sehr guten Job gemacht.

Hat sie auch, technisch gesehen. Aber dieses kleine Pressemeeting in der Nacht nach dem Finale war zugleich das Gegenteil der deutschen Ausgelassenheit nach Lena Meyer-Landruts Sieg 2010 in Oslo: hier die selbstbewusste Ann Sophie ohne Punkte, damals die entfesselt-kesse Sängerin von „Satellite“. Die eine stieg in den Himmel, die andere scheint am Verglühen.

Bitte nicht pfeifen!

Aber es lag keine Verschwörungstheorie in der Luft, als es für Deutschland im Laufe der Wertungen aus 40 Ländern immer schlechter aussah. Denn offensichtlich lagen am Ende die richtigen Lieder vorne, die anderen eben hinten. Friedens- und Sozialappelle (aus Armenien, Ungarn, Rumänien etwa) landeten alle weit hinten. Mit einer Ausnahme, und das war der Beitrag der Russin Polina Gagarina, die schließlich Zweite wurde.

Ihr Song „A Million Voices“, war der Höhepunkt an Pomp und Emphase, ein dreiminütiges Dokument aus der Kategorie „Ein Lied kann eine Lüge sein“. Aber das in weißem Kleid, hymnisch mit Whitney-Houston-hafter Stimme vorgetragen. Sie war das Russland, das es nicht gibt, ein Appell an Vielfalt, Frieden und Liebe zur Verschiedenheit. Ohne Frage: Polina Gagarina war die Beste von allen, aber letztlich bekam sie aus vielen Ländern des früheren Ostblocks nicht die Stimmen, die ihr zum Sieg verholfen hätten: Litauen, besonders empfindsam, was russische Friedenspropaganda betrifft, gab den Nachbarn gar keinen Punkt.

Wie man inkludiert, wie man souverän mit diesem russischen Beitrag umgeht, demonstrierte die eigentliche Königin des Abends, und die hieß Conchita Wurst. Als Moderatorin im Green Room, wo die ESC-Künstler vor und nach ihren Auftritten Platz nehmen, setzte sich die Gewinnerin des Vorjahres neben Polina Gagarina und bat um viel Applaus für die sichtlich vor Nervosität zerfließende Sängerin aus Moskau: Sie habe wunderbar gesungen, sie sei schön und man solle ihr viel Beifall spenden. Das hieß konkret: Das Publikum möge bitte nicht pfeifen, weil Gagarina das homophobe Russland repräsentiere.

Am Sieger hingegen führte kein Weg vorbei. Måns Zelmerlöw aus Schweden performte bei seinem Vortrag von „Heroes“ nicht einmal besonders gut. Hinter ihm nämlich stand eine Plexiglaswand, die die Animationen mit einem kleinen Männchen spiegelte. Hin und wieder wirkte der Sänger gehetzt, sein Gesang schleppte sich manchmal etwas hinterher. Aber was macht das schon, wenn nur der flüchtige Eindruck wirklich zählt?

Auf Zelmerlöw konnten sich alle Länder einigen. Er hat aus jedem Land mindestens vier Punkte erhalten, zwölfmal gab es zwölf Punkte für den Jungen aus gutem Hause, der als seine Lieblingsstadt Berlin nennt – und „Friedrichshain“ antwortet, fragt man ihn, wo er dort gern leben würde. Ein ganz, ganz Cooler also.

Immerhin hat er der eurovisionären (sehr überwiegend queeren) Community den Dienst erwiesen, im kommenden Jahr nicht nach Sankt Petersburg oder Sotschi zu müssen und sich dort womöglich Strafverfolgungen als Homosexueller auszusetzen.

Dass Måns Zelmerlöw in die Schuhe, besser: Pumps der Conchita Wurst passt, kann bezweifelt werden

Dass der Schwede, der wie der freundliche junge Mann mit guten Manieren schlechthin aussieht, ein Anticharismatiker, in die Schuhe, besser: Pumps der Conchita Wurst passt, kann bezweifelt werden. Doch ESC-Sieger im Jahr nach großen Triumphen blieben immer irgendwie schwach. Teach-In 1975 nach Abba, Corinne Hermès 1983 nach Nicole, Carola 1991 nach Toto Cutugno, Charlotte Nilsson 1999 nach Dana International oder Dima Bilan 2008 nach Marija Serifovic: sie nehmen in der eurovisonären Hall of Fame eher randständige Plätze ein.

Måns Zelmerlöw wirkt obendrein mehr wie ein Avatar der schwedische Popmusikindustrie, ein Sänger ohne Kanten, allen wohl und niemand weh. Dissidenz, Eigenheiten, Exzentrizitäten – das war alles gestern, auch beim ESC. Lordi, Ruslana oder Sertab Erener, die Olsen Brothers oder Dana International: sie wirken heutzutage gegen den aktuellen Sieger wie Streiter gegen den Mainstream.

Die Maschine behielt recht

Im Übrigen war Måns Zelmerlöw der Kandidat, der in allen Prognosen seit Ende März verlässlich vorn lag. Überhaupt ist die Rangfolge, die um ein Uhr nachts – nach dem mit fast vier Stunden Übertragung bislang längsten ESC – feststand, ziemlich genau jene, die bis auf leichte Abweichungen überall in den algorithmenbasierten Foren vorausgesagt wurde. Das weist auf eine Gefahr der Show selbst für die Zukunft hin: Wozu braucht es noch die Möglichkeit einer Liveshow, die erst ein künstlerisches Momentum bei den Performern hervorbringen kann, wenn durch feinste Big-Data-Verfahren alles schon vorher ermittelt werden kann?

Nebenbei: Alle Länder gaben überproportional viele Stimmen an ihre Nachbarn, egal was die sangen: Griechenland an Zypern, Weißrussland an Russland, Norwegen an Schweden, die Niederlande an Belgien. Nur Deutschland und Österreich ignorierten sich vollends.

Publikumslieblinge waren in Deutschland die italienischen Tenöre „Il Volo“. Ihr Schmachtfetzen, als sei’s von Enrico Caruso, hieß „Grande Amore“. Aus Deutschland gab es hierfür 12 Punkte. Es ist absehbar, dass dieses Trio kommerziell vom ESC am stärksten profitieren wird – generationsübergreifend.