Auf der Bühne bist du jemand

KNAST Bevor Sunny und Hadida ins Gefängnis kamen, war Theater für sie ein No-Go. Dann wurden sie Teil eines Ensembles. Heute sind beide wieder draußen – und spielen weiter

■ Der Verein Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung führt seit 2011 Gefangenentheaterprojekte durch. An der „Drinnenwerkstatt“ nehmen inhaftierte Frauen aus der JVA Pankow teil. In der „Draußenwerkstatt“ arbeiten Inhaftierte aus den offenen Vollzügen der Jugendstrafanstalt Berlin und des Pankower Frauengefängnisses mit Haftentlassenen zusammen, die hinter Gittern für das Theaterspielen begeistert werden konnten.

■ Theaterklassiker bringen Minor-Ensembles, wie die Mitglieder des Projekts Revue de vie, nicht auf die Bühne. Die SchauspielerInnen erarbeiten ihre eigenen Stücke. Sie entstehen aus selbst geschriebenen Texten, Gedichten und Songs.

■ Die Draußenwerkstatt zeigt ihre Stücke an öffentlichen Orten. Bisherige Spielorte waren zum Beispiel das Kino Babylon in Mitte und der Grüne Salon der Volksbühne.

■ Aktuell steht das Projekt vor dem Aus – wenn sich bis Ende Juni nicht doch noch ein neuer Fördermittelgeber findet.

VON PHILIPP IDEL

„Bist du männlich oder weiblich? Bist du schwul oder hetero? Bist du reich oder arm? Bist du bisexuell? Hast du Kinder? Wer bist du?“ Das sind Fragen, die immer wieder gestellt werden in „TRANSFER – Sind wir die, die ihr seht?“, einem Stück des Ensembles Revue de vie. Die Mitglieder sind Gefangene im offenen Vollzug und Haftentlassene.

Initiiert wurde das Projekt von Minor, einem Verein aus Moabit, der schon mehrere ähnliche Projekte durchgeführt hat – auch mit Gefangenen im geschlossenen Vollzug. Der Projektname „Revue de vie“ hat einen doppelten Sinn: Zum einen geht es darum, die Arbeit theater- und musikpädagogischer Werkstätten als unterhaltsame Revue auf die Bühne zu bringen, die auch Außenstehende interessiert – auf Anmeldung ist „ganz normales“ Publikum stets willkommen. Zum anderen erhalten die Beteiligten einen Ort, wo sie ihr Leben und Handeln Revue passieren lassen können, um auf das neue Leben draußen vorbereitet zu sein. Die Zukunft des Projekts ist zurzeit allerdings unsicher: Wenn sich bis Ende Juni niemand findet, der Fördermittel gibt, droht das Aus.

Im Veranstaltungssaal Glaskasten in der Weddinger Prinzenallee bringen die SchauspielerInnen heute eigene Texte auf die Bühne. Es sind größtenteils autobiografische Stücke. Der Anonymität wegen wurden sie aber so unter den DarstellerInnen verteilt, dass niemand seine eigene Geschichte erzählt.

Die Texte thematisieren vor allem die Zeit vor der Haft: häusliche Gewalt, Zwangsverheiratung und Alkoholismus – und immer wieder den Wunsch während der Zeit der Inhaftierung, dass sich das alles draußen, nach der Entlassung, nicht wiederholen möge. In manchen Momenten erregt aber auch bloß ein einzelner, scheinbar zusammenhangloser Satz die Aufmerksamkeit des Zuschauers. Ein Beispiel: „Es ist, als trüge ich die Tage des Unglücks in mir“, sagt energisch und mit fester Stimme ein Schauspieler, der sich jenseits der Bühne Hadida nennt. Es ist sein Spitzname. Hadida ist das arabische Wort für „Eisen“.

Anführer einer Jugendgang

Hadida sitzt nach der Aufführung in einem winzigen Raum hinter der Bühne und fasst sich nachdenklich an die Stirn. „Bild und B.Z. haben viel Scheiße über mich geschrieben: ‚Die Wahrheit über die Gangs in Neukölln‘, ‚Eine Berliner Kariere‘ und so was.“ Er meint einen B.Z.-Artikel und ein von Bild produziertes Video. Die Beiträge sind Anfang des Jahres erschienen. Aus ihnen erfährt man, dass Hadida der Anführer einer Jugendgang war, der Neuköllner Killerboys – und dass man ihn „Eisen“ rief, weil er als der Härteste der Jungs galt.

Heute will Hadida vor allem eins sein: Schauspieler. Er spielt nicht nur in dem Gefängnisensemble, sondern stand auch schon auf anderen Bühnen. Seit zwei Jahren arbeitet er mit einem DFFB-Regisseur zusammen. Ein politisches Drama, das auf größeren Festivals, auch der Berlinale laufen könnte, sagt er. Mehr dürfe er nicht verraten. Bevor er im Gefängnis damit anfing, konnte er sich nicht vorstellen, Theater zu spielen: „Das ging gar nicht. Wenn mir damals einer erzählt hätte, dass er Theater spielt, hätte ich ihn ausgelacht.“

Auch Sunny hat erst in der Pankower JVA für Frauen mit dem Theaterspielen angefangen. „Draußen macht man das ja nicht einfach so“, sagt sie und winkt lässig ab. Warum sie in Haft ist? „Nach einem Unfall, bei dem ich betrunken war, wurde ich erwischt. Der Führerschein wurde mir abgenommen. Ich bin aber trotzdem weitergefahren. Irgendwann kam ich in den Knast“, berichtet sie. Dort habe sie dann mit dem Theaterspielen begonnen, um dem grauen Gefängnisalltag zu entfliehen. In der Theatergruppe habe sie schnell Freundinnen gefunden. „Die ist korrekt“, kommentiert sie beiläufig, als eine Schauspielerkollegin hinter der Bühne vorbeigeht.

Mit der Freundin aus dem Ensemble kommt die Erinnerung an den Alltag im Gefängnis. Der war anscheinend gar nicht so langweilig und leer, wie man ihn sich vorstellen möchte. Dass sie Computer umgebaut und mit neuer Software bespielt habe, bevor sie nach Afrika gespendet wurden, erzählt Sunny stolz. Auch um das Layout und den Druck von Böse Mädchen, der Gefangenenzeitung, habe sie sich gekümmert, zudem eine Datenbank gepflegt. Das Freizeitangebot am Nachmittag sei riesig gewesen: „Von 15 bis 21 Uhr sind die Zellen offen. Dann kann man Yoga, Qigong, Tae Bo und Musikkurse machen oder basteln. Tae Boe mochte ich am liebsten.“

Als Sunny dann letzten August nach einem Jahr und neun Monaten entlassen wurde, ist die heute 36-Jährige schnell wieder in ihr altes Umfeld abgerutscht, berichtet sie schulterzuckend. Ein Umfeld, aus dem sie erst das Gefängnis, zumindest für die Zeit der Haft, herausgerissen hatte. „Das Gefängnis war das Beste, was mir passieren konnte“, sagt sie deshalb heute.

Auf die Frage, um was für ein Umfeld es sich denn gehandelt habe, antwortet sie nur: „Trinkermilieu“ und senkt den Kopf – auch wenn sie gerade wieder von ihren alten Alkoholikerfreunden Abstand genommen habe. Zur Zeit ist Sunny obdachlos. Ihr jüngerer Sohn, 11 Jahre alt, lebt noch immer im Heim. Der ältere, er ist inzwischen 21, nimmt nur noch sporadisch mit ihr Kontakt auf. Sunny möchte dennoch zuversichtlich wirken. Sie fasst sich. Sie werde das schon alles wieder auf die Reihe kriegen, sagt sie. Auch draußen hat sie das Theaterspielen nicht aufgegeben. Anfangs sei sie zwar häufig nicht zu den Proben gegangen, weil sie zu betrunken war. Inzwischen nehme sie aber wieder regelmäßig daran teil. Vielleicht weil das Theaterspielen ihrem Leben Struktur gibt? Oder weil sie oft allein ist, seitdem sie sich wieder von dem Trinkermilieu distanziert hat? „Im Theater sind meine Theaterfreunde. Ohne das Theater würde mir draußen etwas fehlen“, sagt sie.

Auch für Hadida ist das Theaterspielen nicht mehr aus seinem Leben wegzudenken. Er möchte es zu seinem Beruf machen. Noch kann er nicht davon leben. Er kellnert mal hier, mal dort, auch hin und wieder bei Verwandten und Freunden, wohnt wieder bei seinen Eltern.

Als Säugling ist Hadida aus dem Libanon nach Deutschland gekommen, und er ist – auch wegen seiner Vorgeschichte – noch immer nur geduldet. Offiziell darf er nicht arbeiten, die Wohnungssuche macht ihm Probleme. „Man ist irgendwie immer noch in Haft“, beschreibt er seine derzeitige Situation. Er wirkt angespannt, konzentriert. Immer wieder betont er, dass er ein Mensch sei, der sich viel mit sich selbst beschäftige, an sich arbeite – so viel, dass es ihm manchmal zu viel werde. „Ich brauche endlich einen klaren Kopf“, sagt er. „Ich will meine eigene Wohnung. Ich will meine Steuern zahlen. Ich will einfach auch mal abschalten können.“

„Wer bist du?“, fragt das Ensemble im Chor. „Keine Ahnung“, antwortet ein Schauspieler, „ich weiß nicht, was mich ausmacht“

In dem Bild-Video, über das sich Hadida am Anfang des Gesprächs beklagt hat, macht der 23-Jährige eine gute Figur. Er trägt Sakko und Kastenbrille, raucht cool, führt den Journalisten bereitwillig durch die Gegend, in der er groß geworden ist: Sonnenallee, Ecke Pannierstraße. Nüchtern, abgeklärt spricht er über seine Vergangenheit, sucht nach Erklärungen für seine Verbrecherkarriere. Schon als Kind habe er nicht zu den anderen gehört, sagt er. „Im Schulbus war klar: Der geht auf die Sonderschule.“

Später wurde Hadida dann kriminell. Er beraubte und erpresste vor allem Kinder und Jugendliche, erbeutete Handys, MP3-Player und kleinere Bargeldbeträge. Als er vor Gericht gestellt wurde, war in den Medien vom „Bandenchef aus Neukölln“ und vom „schlimmsten Jugendintensivstraftäter Berlins“ die Rede.

„Ich habe Mist gebaut. Ich habe sieben Jahre dafür gebüßt. Jetzt ist es vorbei“, sagt Hadida heute. Dennoch: Die Vergangenheit will nicht vergehen – noch nicht. Nach der Aufführung im Glaskasten sei ein anderer Regisseur zu ihm gekommen und habe ihn gefragt, ob er mit ihm einen Kiezkrimi drehen wolle, erzählt Hadida – ein Angebot, dass er bestimmt nicht nur deshalb erhalten hat, weil er als Schauspieler etwas kann. Der Regisseur sieht vermutlich auch den alten Hadida in ihm: den authentischen Verbrecher.

„Wer bist du?“, fragt das Ensemble, in dem auch Sunny und Hadida Theater spielen, im Stück „TRANSFER“ immer wieder im Chor. „Keine Ahnung“, antwortet ein Schauspieler, „ich weiß nicht, was mich ausmacht. Ich bin jemand.“

Vielleicht ist es genau das, was Sunny und Hadida sich nach der Haft, draußen in der Welt, wünschen: einfach nur jemand sein zu können.