Verborgene Schätze sichtbar machen

KINO Ein kollaboratives Experiment und ein interessantes Filmgewimmel: Für das Festival „Visionary Archive“ arbeitete das Arsenal-Kino mit Filmarchiven aus Bissau, Johannisburg, Khartum und Kairo zusammen

VON SILVIA HALLENSLEBEN

Ein nach 47 Jahren wiederentdeckter algerischer Kurzspielfilm, der in neorealistischer Tradition von Migrantenschicksalen des Nachkriegs-Algerien und auch damals teuer bezahlten Schiffspassagen über das Mittelmeer erzählt („Le grand détour“, R: Ahmed Bedjaoui, 1968). Kodakbunte halbdokumentarische Bilder einer jungen Profi-Schwimmerin aus dem Sudan, die trotz Handicap an einem Wettkampf auf Capri teilnimmt und mit ihrem Vater (dem Regisseur) die Touristenstrände der Insel durchstreift („Viva Sara!“, R: Gadalla Gubara, ca. 1980).

Das von dem afrikaansen Regisseur Louis de Witt für ein schwarzes Publikum gedrehte B-Agentenstück „Joe Bullet“ von 1971. Und ein von französischen Unterstützern gedrehter 16mm-Agitationsfilm zum Befreiungskampf von Guinea-Bissau, der angesichts der Umstände erstaunlich zivil daherkommt („No pincha!“ R: Tobias Engel u. a., 1970).

Vier Stationen des am Mittwoch gestarteten „Visionary Archive Festival“. Vier ganz unterschiedliche Filmwelten, die – neben dem gemeinsamen afrikanischen Hintergrund – dennoch ein paar Dinge teilen: Sie bereichern unsere Vorstellung der Welt durch unerwartete Blickwinkel und Konstellationen und eröffnen so auch einen produktiven Blick in die Geschichte. Und sie wurden allesamt erst vor kurzer Zeit ins Licht der Öffentlichkeit gebracht.

Denn es sei ein Mythos der digitalen Ära, so Stefanie Schulte Strathaus vom Arsenal, dass mit der neuen Technik schon alle visuellen Schätze der Vergangenheit bequem als Digitalisat verfügbar seien. Immer noch liege der größte Teil im Dunkel von Archiven und Dachböden. Deshalb gehe es auch immer noch – und noch lange – erst einmal darum, die im Verborgenen schlummernden Schätze zugänglich und sichtbar zu machen.

Zur lebendigen Aneignung

Dies gelte für hiesige Archive (wie das hauseigene des Arsenal), noch mehr aber für die oft noch jungen Sammlungen in gesellschaftlich und ökonomisch prekären Gegenden der Erde. So ging die Reise nach dem zum 50. Geburtstag des Arsenal vor zwei Jahren erfolgreich initiierten Projekt „Living Archive“ auch weiter in genau diese Welten hinaus. Hatten die Arsenalistinnen für „Living Archive“ das eigene Archiv zur lebendigen Aneignung auch durch institutionsexterne InteressentInnen geöffnet, so begaben sie sich mit „Visionary Archive“ in Kommunikation mit Forschern, Künstlern und Sammlungen aus Bissau, Johannesburg, Khartum und Kairo, die sich mit regionaler Filmgeschichte befassen.

So ist das „Studio Gad“ in Khartum eine aus dem Nachlass des 2008 verstorbenen sudanesischen Kino-Pioniers und Regisseurs Gadalla Gubara hervorgegangene private Sammlung, die „Cimatheque“ (!) in Kairo befindet sich als selbstorganisiertes Projekt der alternativen Filmszene gerade in Aufbau. Im nun öffentlich vorgestellten Projekt des „visionären Archivs“ (ein laut Ankündigungstext als „forsche Prämisse und forschender Impuls zugleich“ gemeinter Begriff) kommen sie über die Präsentation eigener Forschungsprojekte miteinander in Austausch über eine politisch verstandene Filmgeschichte.

Dabei sei das mit Geldern aus dem TURN-Programm der Kulturstiftung des Bundes möglich gemachte „kollaborative Experiment“ zugleich Abschlussfestival eines zweijährigen Forschungsprozesses wie öffentliches Arbeitstreffen, so Co-Kurator Tobias Hering. Als Ort der Afrika-Konferenz 1884/85 ist Berlin ein mit kolonialer Geschichte aufgeladener Mitakteur des von Marie-Hélène Gutberlet und Hering verantworteten und historisch geerdeten Programms, das in der Präsentation der Forschungsvorhaben und der begleitenden Broschüre vorbildlich auf den vielerorts üblichen Kuratorensprech verzichtet.

Ein Bewusstsein für die Bedeutung von Vermittlung, das sich auch in der Vielfalt der Präsentationsformen zeigt. So wird neben Ausstellungen und Workshops die Vorführung des fragmentarischen „Viva Sara!“ von der porträtierten Sara Gubara – heute Leiterin des Studio Gad – live kommentiert. Und zum Abschluss nächsten Sonntag gibt es in Kooperation mit der African Refugee Union einen Stadtspaziergang zu einem (noch offenen) Ort, wo in Anlehnung an mobile Kinotraditionen unter freiem Himmel Material aus dem Archiv des Nationalen Filminstituts von Guinea-Bissau gezeigt wird.

So wird der antikoloniale Kampf über Formen historischer Kinopraxis mit aktuell brennenden Fragen der Migration vermittelt. Aber die offene vielstimmige Form des Festivals verspricht auch vielfältige Möglichkeiten, sich ganz eigene Wege der Erkenntnis durchs Filmgewimmel zu schlagen. Ob die konkrete Ausführung diesem Potenzial gerecht wird, werden die nächsten Tage zeigen.

■ „Visionary Archive Festival“; Film-Screenings, Diskussionen, Recherchen, Vorträge, Workshops bis 31. Mai. Veranstaltung in englischer Sprache. Programm unter www.arsenal-berlin.de