WIR : HIER

27. Kapitel

Szusza nahm einen Schluck aus der Büchse. „Ich hab es mir bei dir zu Hause immer schön vorgestellt. Dass sich deine Alten voll dafür interessieren, was du machst und dass du früher bestimmt reiten durftest und zum Ballett und so was“

Szusza saß hinter ihrem Schlagzeug, starrte auf einen Zettel und kaute auf einem Stift herum. „Nächsten Freitag fangen die Herbstferien an. Laura und Matteo verreisen, oder? Cem und ich bleiben in Berlin, aber zu zweit proben ist sinnlos. Wir müssten uns schon seit Wochen auf den Wettbewerb vorbereiten. Wir haben kaum geübt in der letzten Zeit. Zwanzig Minuten spielt jede Band, das sind fünf, sechs Songs. Welche nehmen wir? „Hier ist die Hölle“ auf alle Fälle. Weitere Vorschläge?“

Matteo schubste Laura an. „Vorher noch was anderes. Ich muss euch was zeigen“, sagte sie, griff das Kästchen aus ihrem Rucksack, stellte es auf die Snare und erzählte, was es damit auf sich hat. Danach war niemand mehr an der Wettbewerbsvorbereitung interessiert.

Cem wollte auf keinen Fall, dass sie den Orden für seinen Vater verkaufen. Als wäre seine Familie auf Almosen angewiesen! Szusza regte sich über diesen in ihren Augen falschen Stolz auf. „Almosen. So ein Quatsch! Es geht darum, dass man sich gegenseitig hilft. Das ist das Normalste auf der Welt. Und wenn wir nur 500 Euro für den Mist bekommen, kriegt ihr euren Vater 500 Euro schneller aus dem Knast.“

Aber Cem lies sich nicht umstimmen, es sei ganz und gar unmöglich, wie sollte er seiner Mutter erklären, woher das Geld kommt? „Wir haben illegal Naziorden verkauft? Könnt ihr euch vorstellen, was meine Mutter dazu sagen wird? Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass sie das annehmen würde.“ Das war allerdings ein gutes Argument.

Laura war immer mehr davon überzeugt, die Sachen einem Museum zu geben. Aber welchem? Dem Deutschen Historischen? Oder einer Gedenkstätte? Andererseits müssten sie dann erklären, wo sie das Kästchen gefunden hatten und das könnte Ärger bedeuten.

Sie sollten zuallererst klären, ob man in Deutschland überhaupt Abnehmer dafür fände, meinte Matteo. Laura hielt dagegen: „Das hab ich doch längst gecheckt. Oder glaubst du, du würdest was anderes herausfinden? Ich finde das total unmoralisch. Solche Orden kaufen nur Nazis. Ohne mich. No way.“

„Oh Prinzesschen, du bist noch nicht mal erwachsen und redest von Moral. Was soll nur aus dir werden, wenn du mal dreißig bist, wenn du jetzt schon so denkst.“

„Es ist sowieso meine Entscheidung, ich hab das schließlich gefunden.“ Laura hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, aber es war zu spät. Gesagt ist gesagt. Und die Antworten kamen prompt und so heftig, dass sie: Ihr könnt mich alle mal! schrie und aus dem Probenraum rannte. Sie war es so unendlich leid. Ständig bestimmten andere, was sie zu tun und zu lassen hätte. Ihre Eltern, der Handball-Trainer, der, als sie auch nur angedeutet hatte, dass sie aufhören würde, völlig ausgerastet war, und im Job wurde sowieso nur gesagt: Mach dies, Mach das! Und jetzt auch noch Goldstück. Sie war so wütend! Am meisten auf Matteo, der hatte sie gezwungen, den anderen von dem Kästchen zu erzählen. Sie bereute, dass sie ihn eingeweiht hatte. War doch klar, dass der sich durchsetzen musste. Und überhaupt, dass sie sich auf diese dumme Mutprobe eingelassen hatte, war so dämlich von ihr. Wenn die anderen alles besser wussten, hörte sie eben auf. Mit allem! Schule schmeißen, ausziehen, Job kündigen, Band verlassen und dann endlich mal Ruhe haben. Ruhe, um nachdenken zu können, was sie wollte, statt nur auf Vorwürfe reagieren zu müssen. Sie hockte sich auf eine Parkbank und fing vor lauter Wut und Verzweiflung an zu heulen. Als sie eine Hand auf ihren Schultern spürte, sah sie hoch. Szusza war ihr nachgelaufen, fischte eine Büchse Bier aus ihrer Jackentasche, öffnete sie und hielt sie Laura hin.

„Ist doch nicht so schlimm.“

„Doch. Ist sogar noch viel schlimmer. Scheißegal, was ich mache, es kommt immer falsch rüber. Ständig stehe ich als Egoistin da, dabei … Ach, ist auch egal.“

„Du bist nicht egoistischer als andere, aber du sagst Sachen auf so eine komische Art. Da denkt man immer: Ach, das Prinzesschen will alle nach ihrer Pfeife tanzen lassen und darüber regt man sich auf.“

„Mann, diese Prinzessinnen-Kacke, die geht mir so auf die Nerven. Was soll das?“

„Ey, ist nur Spaß.“ Szusza dachte nach. „Du hast eben reiche Eltern, die dich immer unterstützen und da …“

Laura unterbrach sie. „Meine Eltern sind nicht reich. Und von wegen Unterstützung. Das stimmt überhaupt nicht.“ Dann erzählte sie von ihrem Stress zu Hause, von dem Gefühl, es gehe nie um sie als Person. Ihre Eltern interessiere nur, dass sie erfolgreich wird, nie könne sie einfach aus Spaß was tun, immer muss ein Mehrwert dabei sein, das wäre echt nicht lustig.

Szusza nahm einen Schluck aus der Büchse. „Ich hab es mir bei dir zu Hause immer schön vorgestellt. Dass sich deine Alten voll dafür interessieren, was du machst und dass du früher bestimmt reiten durftest und zum Ballett und so was.“

„Ja, war auch so. Nur dass ich vor Pferden Angst hatte und tanzen fand ich grässlich. Aber ich musste trotzdem.“

Szusza schwieg. Laura schniefte. Dann sagte sie: „Ist doch klar, dass wir zusammen entscheiden, was mit dem Kästchen passiert, ich war es nur so leid, dass ich mich immer rechtfertigen muss. Als sei meine Meinung grundsätzlich Mist und eure nicht.“

Sie tranken das Bier aus und saßen noch eine Weile nebeneinander.

„Läuft da eigentlich was zwischen dir und Matteo?“

„Keine Ahnung.“

■ Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist im Verbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigenVerlagen2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de